Kar- und Ostertage 2020

ein wahrhaft besonderes Osterfest


Abgesagtes Leben

Freitag, 1. Mai 2020

Heute wäre ich in Berlin. Heute Nachmittag fände in der Deutschen Oper eine Aufführung des "Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg" statt. Großartige Musik, ein umwerfendes Ereignis - wenn es stattfinden würde. Es wurde abgesagt - wie so Vieles in diesen Tagen.

Die Deutsche Oper Berlin hat schon vor einigen Tagen die komplette Spielzeit beendet, die Oper Frankfurt hat gestern nachgezogen. Es werden noch weitere Aufführungen endgültig abgesagt werden.

Die Wartburg

Die Wartburg in Eisenach.

Foto: Jörg Sieger

Ich sammle mittlerweile die ganzen Tickets und Reservierungen, die Fahrkarten und Einladungen zu all den Ereignissen, die jetzt nicht stattfinden. Der Stapel ist schon beinahe einen halben Zentimeter dick. Ein halber Zentimeter abgesagter Vorfreude. Ein halber Zentimeter abgesagtes Leben.

Ja, die Dinge, die jetzt alle nicht stattfinden können, schmerzen. Dabei weiß ich, dass es viele Menschen gibt, die auf solche Ereignisse jetzt nicht verzichten müssen. Denn um das zu können, dazu muss man ja erst einmal so privilegiert sein wie ich, um sich all dies überhaupt leisten zu können. Mancher in unserem Land kann das. In Deutschland können es sogar viele. Aber es gibt auch bei uns immer mehr Menschen, die es sich nie leisten könnten. Sie werden meinen Schmerz deshalb wohl auch gar nicht richtig nachvollziehen können. Mit vielen anderen zusammen lebe ich nämlich auf einem derart hohen Niveau und genieße eine Fülle von Annehmlichkeiten, die für andere allerhöchstens Träume bleiben. Und sie müssen in aller Regel um so mehr davon träumen, je weiter sie von Deutschland entfernt leben.

Wenn wir schon bei Oper sind: Wilhelm Kienzl hat 1911 ein heute recht vergessenes Werk zur Uraufführung gebracht. Es heißt "Der Kuhreigen" und handelt vom Ausbruch der französischen Revolution. Und natürlich handelt es von der Liebe. Primus Thaller verliebt sich in die Adelige Blanchefleur und bietet ihr an sie vor der Guillotine zu retten. Die Lösung ist ganz einfach: Sie müsste ihn lediglich heiraten und könnte weiterleben. Blanchefleur lehnt ab. Sie kann sich nicht vorstellen, dass ein Leben in dieser anders gewordenen Welt, für sie noch lebenswert ist. Lieber stirbt sie, als das Leben einer Marquise mit dem einer "Frau Hauptmann" einzutauschen.

Ich beginne langsam zu begreifen, wie schwer es für Menschen ist, denen alle Möglichkeiten offen stehen, von dieser Art zu leben, wieder Abstriche machen zu müssen. Der Adel Frankreichs im Ausgang des 18. Jahrhunderts ist schließlich von den höchsten Höhen in die tiefsten Tiefen gestützt worden.

Davon sind wir weit entfernt. Es sind ein paar wenige Einschränkungen, die mich aber schon jetzt nach ein paar Wochen zum Ächzen und Stöhnen bringen. Und wenn dann wieder eine Absage eintrudelt überkommt mich Traurigkeit. Es ist ein Jammern auf hohem Niveau, das mir um mich herum begegnet und in das ich munter einstimme.

Ich gehöre einer Generation an, die ein Leben lang erlebt hat, dass es immer weiter bergauf ging, dass es immer mehr Möglichkeiten gab und es von Jahr zu Jahr noch besser wurde. Dafür habe ich nichts getan. Ich bin ganz einfach - wie die Adligen in der Zeit des Ancien Régime - in diese Zeit und in dieses Land hineingeboren worden.

Alle Gutachten prophezeien uns, dass wir in unserer Gesellschaft auf diesem Niveau nicht weiter werden leben können. Wir werden uns massiv einschränken müssen, wenn wir auf Zukunft hin alle auf dieser Erde einigermaßen gut leben wollen. Und diese Einschränkungen werden viel massiver sein, als das bisschen, auf das ich jetzt durch diese Pandemie zu verzichten gezwungen bin. Das wird für uns und für mich eine gewaltige Umstellung bedeuten. Wie werden wir, wie werde ich das schaffen, wenn ich schon jetzt zu stöhne beginne?

Jörg Sieger

Jesus [...] sagte: Wie schwer ist es für Menschen, die viel besitzen, in das Reich Gottes zu kommen! Denn leichter geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt. Die Leute, die das hörten, fragten: Wer kann dann noch gerettet werden? Er erwiderte: Was für Menschen unmöglich ist, ist für Gott möglich.

Evangelium nach Lukas 18,24-27