Kar- und Ostertage 2020

ein wahrhaft besonderes Osterfest


Mitleid

Dienstag, 7. April 2020

"Der britische Regierungschef Boris Johnson ist wegen seiner Covid-19-Erkrankung auf die Intensivstation verlegt worden. Der Gesundheitszustand des 55-Jährigen habe sich im Verlauf des Nachmittags verschlechtert, teilte der Sprecher des Premierministers am Montagabend mit."

Darüber berichteten nicht nur die Badischen Neuesten Nachrichten. Die Meldungen überschlugen sich diesbezüglich.

Bin ich ein schlechter Mensch? Irgendwo bin ich über mich selbst erschrocken, als ich spürte, wie sich mein Mitleid in Grenzen hält.

Es gibt Menschen, die finde ich widerwärtig. Denen will ich nicht wirklich begegnen. Dazu gehören notorische Lügner wie Boris Johnson oder Donald Trump. Dazu gehören Machthaber wie Jair Bolsonaro oder Viktor Orbán. Und ich finde es entsetzlich, wenn die immer davon kommen, mit ihren Machenschaften jedes Mal durchkommen und die Menschen nicht begreifen, was für Typen das wirklich sind.

Aber ich erschrecke gleichzeitig, wenn ich in mich hineinhöre. Ich merke beispielsweise, dass es mir schwerfällt, eine rasche Antwort zu geben, auf die Frage, ob ich solchen Gestalten, wenn sie vor mir im Graben lägen, gleich hilfreich die Hand reichen würde.

Der Heilige Michael mit der Waage

Hans Memling, Jüngstes Gericht

Nationalmuseum Danzig - Foto: Jörg Sieger

Menschen wie sie waren es, die ein klassisches Erklärungs­muster zu Fall brachten. In der Antike, in der Frühzeit der Bibel hatte man nämlich gemeint, eine Lösung gefunden zu haben: eine Lösung für das Problem mit dem ungleichen Schicksal der Menschen. Man hatte sich dieses Phänomen damit zu erklären versucht, dass diejenigen, die Gutes tun eben auch gut leben würden. Schlechte Menschen aber würden vom Schicksal, von einer höheren Macht, letztlich von Gott, für ihre Taten bestraft. Tun-Ergehen-Zusammenhang nennt man dieses Erklärungsmuster: Menschen ergeht es letztlich entsprechend ihres Tuns.

Schon in der Bibel ist dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang in die Krise gekommen. Genau solche Menschen, die sich an nichts halten, nur sich selbst kennen und sogar über Leichen gehen, sie haben dieses Erklärungsmuster in Frage gestellt. Denn nicht selten sind genau sie es, denen es in diesem Leben am besten geht.

Die hebräische Bibel hat keine Lösung mehr für diese Frage gefunden. Im Buch Ijob - früher auch Hiob genannt - wird uns eine Hauptfigur vor Augen geführt, die wahrhaft gerecht ist und keine Schuld auf sich geladen hat. Nichtsdestoweniger wird ihm in den sprichwörtlichen Hiobsbotschaften die Nachricht vom Verlust seines Besitzes und vom Tod seiner ganzen Familie überbracht. Und am Ende erkrankt er selbst auch noch unheilbar. Die Erklärung seiner "Freunde", dass er eben für Schuld bestraft würde, die ihm nicht bewusst sei, lässt er nicht gelten. Er hadert mit Gott, wird von diesem aber nur mit dem Einspruch abgewiesen, dass er als kleiner Mensch die großen Zusammenhänge eben einfach nicht begreifen könne.

In den letzten beiden Jahrhunderten vor Christus setzte sich ein neues Erklärungsmuster durch. Dies ging Hand in Hand mit der neu sich Bahn brechenden Vorstellung eines Lebens nach dem Tod. In der hebräischen Bibel findet sich eine solche Lehre noch nicht. Zurzeit Jesu war sie in Israel jedoch schon sehr weit verbreitet. Während die Sadduzäer sich so etwas noch nicht vorstellen konnten, glaubten die Pharisäer wie selbstverständlich an eine Auferstehung von den Toten. Mit diesem neuen Leben gab es aber auch eine neue Lösung für die Ungerechtigkeiten auf dieser Welt. Wer hier zu Unrecht unter die Räder kommt, dem wird in diesem jenseitigen Leben Gerechtigkeit widerfahren. Und der Haderlump in diesem Leben wird für seine Untaten im Jenseits bestraft werden.

Seit über zweitausend Jahren ist die Hoffnung auf Gerechtigkeit in der kommenden Welt vielen Gläubigen ein Trost geworden: Trost für sehr viel Leid, das Menschen von anderen angetan wurde und wird. Aber diese Vorstellung war auch der Nährboden für sehr viel Vertröstung. Wer sich den Lohn im Jenseits erwartet, macht im Diesseits keine Revolution. Wer wird sich auch um wirkliche Änderung der Verhältnisse in diesem kurzen Leben kümmern, angesichts der Ewigkeit, die auf uns wartet. Diejenigen, die sich nicht viel um solche Drohungen mit Gericht und jenseitiger Vergeltung scherten, haben von dieser Vertröstung aber immer profitiert. Sie konnten ungeniert ihr Leben genießen.

Vor allem die Propheten haben uns ins Stammbuch geschrieben, dass Gottes Ordnung für diese Welt aber keine Vertröstung bedeutet. Sie will das Zusammenleben der Menschen jetzt und in dieser Zeit ermöglichen. Gottes Wegweisung, wie sie in der Bibel niedergelegt ist, ist nicht der Kriterienkatalog für einen Richterspruch am Jüngsten Tag. Gottes "Torah" ist die Anleitung dafür, wie unser Leben auf dieser Welt glücken kann.

Dies hat nicht nur Bedeutung für religiöse und gläubige Menschen. Ganz im Gegenteil: Es waren vor allem die Denker der Aufklärung, die dieses alte Menschheitserbe wieder in Erinnerung riefen. Während sich Christen weltweit noch mit der jenseitigen Gerechtigkeit trösteten, war es vor allem der Humanismus, der am Ende die Formulierung der Menschenrechte ermöglichte. Erst in der "Theologie der Befreiung" ist dieser konsequente Blick auf die Lebensverhältnisse der Menschen im Hier und Heute wieder in der Theologie angekommen. Viele Repräsentanten von Religion sträuben sich bis heute dagegen.

Der Ruf nach Gerechtigkeit ist aber - bei allem Widerstand auch der offiziellen Kirche gegen die Vertreter der "Theologe der Befreiung" - kein Mangel an Vertrauen in das göttliche Gericht. Und das Verlangen nach Änderung der Verhältnisse ist kein Sozialismus. Es ist letztlich nichts anderes als das Ernstnehmen der göttlichen Wegweisung, wie sie in der Bibel grundgelegt ist. Wer Witwen und Waisen, die Ärmsten der Armen, unterdrückt, darf nicht das letzte Wort behalten. Wer nicht die Option für die Armen ergreift, kann sich nicht an der Seite des Rabbi aus Nazareth wähnen. Und wer Menschen belügt und hintergeht, darf damit nicht davon kommen.

Ich weiß, dass mir ein Urteil nicht zusteht. Mein Verstand sagt mir, dass ich Gott nicht vorgreifen darf, dass ich die Zusammenhänge nicht überblicke und deshalb auch nie wirklich in einen Menschen hineinschauen kann. Deshalb denke ich, dass ich nach einigem Zaudern auch solchen Menschen, wenn sie denn Hilfe brauchen, am Ende die Hand reichen würde. Das aber ist mein Verstand und nicht mein Gefühl. Aus meinem Abscheu kann ich keinen Hehl machen. Und ich müsste lügen, wenn ich nicht gestehen würde, dass mich eine Fülle von Schicksalen in der derzeitigen Corona-Krise weit mehr berührt hat, als das eines Boris Johnson.

Jörg Sieger

Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden und nach dem Maß, mit dem ihr messt, werdet ihr gemessen werden. Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und siehe, in deinem Auge steckt ein Balken! Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du zusehen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen!

(Evangelium nach Matthäus 7,1-5)