Kar- und Ostertage 2020

ein wahrhaft besonderes Osterfest


Wie lange hat es gedauert?

Ostermontag, 13. April 2020

Diese Frage stelle ich mir, seit ich mich näher mit den neutestamentlichen Berichten beschäftige. Damals ist mein Bild von Ostern ganz kräftig ins Rutschen gekommen. Sie sind einfach zu schön, die Berichte - so schön, dass ich die Vorstellung, hier wird eins zu eins das Geschehen von damals berichtet, lange nicht aufgeben wollte.

Es war kein einfacher Prozess, sich selbst zuzugestehen, dass die Texte der Evangelien andere Qualität haben als ein Zeitungsbericht oder eine historische Chronik. Wenn ich selbst dabei gewesen wäre, was hätte ich wohl erlebt? Was wäre los gewesen in Jerusalem?

Himmel und Menschen, eine überfüllte Stadt - ja, diese Bilder stimmen wohl. Damit hat es sich aber dann auch schon. Ich habe schon am Palmsonntag darauf hingewiesen, dass das Geschehen des "Einzugs in Jerusalem" wohl mehr als unspektakulär gewesen ist. Und große Beachtung hat es wohl kaum gefunden. Der älteste Text, das Markus-Evangelium (Mk 11), berichtet nichts davon.

Am Ostermorgen war das nicht anders. Am ganzen Ostertag nicht. An Ostern hat niemand der Jünger Jesu Halleluja gesungen. Nicht einmal die Frauen.

In diesem Jahr wurde aus dem Matthäus-Evangelium gelesen. Dort heißt es in der Osternacht, dass die Frauen vom leeren Grab gingen "voll Furcht und großer Freude" (Mt 28,8). Nicht nur an dieser Stelle wird deutlich, dass die Darstellung des Geschehens in der Überlieferung im Laufe der Zeit immer größer und gewaltiger wurde. Und später offenbar als schwierig empfundene Stellen wurden immer weiter relativiert. An der historischen Wirklichkeit dürfte der gut 20 Jahre vor Matthäus festgehaltene Markus-Text sehr viel näher dran sein. Dort heißt es nämlich über die Frauen:

"Da verließen sie das Grab und flohen; denn Schrecken und Entsetzen hatte sie gepackt. Und sie sagten niemandem etwas davon; denn sie fürchteten sich." (Mk 16,8)

Tomatensämling

Leben bricht sich Bahn

Foto: Jörg Sieger

Von Freude ist bei Markus keine Rede. Und auch, dass die Frauen den Jüngern alles berichtet hätte, wird dort nicht bezeugt. Vermutlich hätten, sie auch kaum jemandem davon erzählen können. Von den Jüngern war am Ostermorgen mit großer Wahrscheinlichkeit niemand mehr in Jerusalem. Vermutlich schon Karfreitagnachmittag haben sie alle das Weite gesucht und sind geflohen - und das mit gutem Grund. Als Anhänger des zum Tode Verurteilten waren sie selbst in höchstem Maße gefährdet. Und da werden wohl noch sehr viel mehr von ihnen geleugnet haben, den Herrn zu kennen als nur Simon Petrus, von dem dies überliefert ist.

Nur die Frauen konnten Jesus von Nazareth ohne Weiteres auf dem Kreuzweg folgen. Ihnen wurde keine weitere Beachtung geschenkt. Und auch der "Jünger, den Jesus liebte", konnte sich wohl ohne größere Schwierigkeiten unter die Menge mischen. Auch er scheint nicht weiter aufgefallen zu sein. Möglicherweise war er einfach noch so jung, dass er sich ohne große Gefahr bis unter das Kreuz wagen konnte. Rudolf Schnackenburg denkt bei diesem Lieblingsjünger, der beim Mahl im Schoß Jesu lag, an den "Sohn des Hauses".⋅1⋅ Er dürfte noch sehr jung gewesen sein, fast noch ein Kind.

Die Jünger selbst aber waren da schon auf dem Weg nach Galiläa. Sie flohen nach Hause. Das lässt sich aus der Darstellung des Markus gut ablesen. Dort erhalten die Frauen nämlich den Auftrag:

"Nun aber geht und sagt seinen Jüngern und dem Petrus: Er geht euch voraus nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er es euch gesagt hat." (Mk 16,7)

Der Verfasser des Passionsberichtes, der im Markus-Evangelium verschriftet wurde, weiß wohl noch darum, dass in Jerusalem keine Jünger hinter verschlossenen Türen Erscheinungen hatten. Den Auferstandenen werden die Jünger erst in Galiläa sehen, nicht in Jerusalem.

Rein historisch betrachtet ist kein Simon Petrus am Ostersonntagmorgen zum Grab gelaufen. Und kein Jünger Jesu hat in Jerusalem am Ostersonntag Halleluja gesungen. Und das in der Folgezeit so wichtig gewordene "leere Grab" spielt in der ältesten christlichen Überlieferung - in den Paulusbriefen etwa - absolut keine Rolle.

Was aber ist dann passiert? Wie kamen die Jünger, die erste Christengemeinde, zum Glauben an den Auferstandenen? Wann hatten sie die Schockstarre wirklich überwunden? Und wie müssen wir uns das vorstellen mit den Erscheinungen Jesu?

Das alles sind Fragen, auf die es keine historisch oder naturwissenschaftlich schlüssigen Antworten gibt. Es kann hier nur noch einmal betont werden, dass den Evangelien nicht daran gelegen war, zu berichten, wie sich die Dinge genau nacheinander zugetragen haben. Die Evangelien schildern in allererster Linie, was diese Ereignisse für uns bedeuten. Der neugierige Abendländer unserer Zeit, der immer alles genau wissen will, kann nur zwischen den Zeilen lesen und sich der historischen Wirklichkeit nur ganz vage nähern.

Von entscheidender Bedeutung scheint dabei ein Wort zu sein: Es handelt sich um das griechische Wörtchen ὤϕϑη [ophthe]. Schon in der ältesten neutestamentlichen Erwähnung der Auferstehung kommt dieser Begriff vor:

"Denn vor allem habe ich euch überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsere Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien dem Kephas, dann den Zwölf. Danach erschien er mehr als fünfhundert Brüdern zugleich; die meisten von ihnen sind noch am Leben, einige sind entschlafen. Danach erschien er dem Jakobus, dann allen Aposteln." (1 Kor 15,3-7)

ὤϕϑη [ophthe] wird dabei gewöhnlich mit "er erschien" übersetzt. Letztlich kann diese Wendung aber verschieden übertragen werden. Sie kann heißen "er wurde gesehen", aber auch "er hat sich sehen lassen". Selbst die Übersetzung "er wurde sichtbar gemacht" ist möglich. Letztere Übertragung, die Karl Lehmann als "theologischen Passiv" bezeichnet, hat letztlich Gott zum Subjekt: Gott hat sichtbar gemacht.⋅2⋅

Vom Wort selbst her wird hier in keiner Weise beschrieben, was sich dabei genau ereignete. Dass Jesus lebt, wurde den Jüngern sichtbar gemacht. Sie haben es begriffen. Wie genau, bleibt völlig offen. Es bleibt auch offen, wann sie zu dieser Einsicht kamen und ob das schlagartig gewesen ist oder gedauert hat.

Die Jünger auf dem Weg nach Emmaus sind hier ein recht hilfreiches Bild. Sie mussten einen längeren Weg zurücklegen, um langsam zu begreifen, wie die Worte, die dieser Jesus von Nazareth während seines irdischen Wirkens gesagt hat, wohl zu verstehen waren und welche Rolle und Bedeutung seine Zeichen hatten. Das dauerte. Das ereignete sich nicht von heute auf morgen. Und möglicherweise war es genauso wenig spektakulär, wie der Einzug in Jerusalem in der Darstellung des Markus-Evangeliums.

Die wirklich entscheidenden Momente im Leben von Menschen sind nämlich in aller Regel recht leise, kommen nicht mit großem Theaterdonner daher und werden uns häufig nur in der Rückschau wirklich bewusst. Selbst wenn das "sichtbar werden" des Auferstandenen - historisch betrachtet - ein längerer, innerer Prozess gewesen wäre, der Bedeutung tut dies keinen Abbruch. Es kam der Tag, an dem die Jünger Jesu so davon überzeugt waren, dass der Gekreuzigte nicht im Grab geblieben ist, dass sie keine Gefahren mehr scheuten und plötzlich wieder mitten in Jerusalem waren. Der Pfingsttag bezeugt, dass sich der Glaube an den Auferstandenen bei den Jüngern des Nazareners wirklich Bahn gebrochen hat.

Wann und wie sich das genau ereignet hat, bleibt dem Zugriff des Historikers verwehrt. Wir können nur feststellen: Es hat längstens fünfzig Tage gedauert.

Das entzaubert etwas die Bilder vom fröhlichen Osterjubel. Das historische Osterfest war vermutlich kein besonders freudiger Tag. Mit den düsteren Gedanken, die die Jünger Jesu damals niederdrückten, ist es dem diesjährigen Osterfest möglicherweise gar nicht so unähnlich. Und die Frage, die den Theologen und Historiker bewegt, wie lange es denn gedauert habe, bis sich die Gewissheit der Auferstehung durchgesetzt hat, ist ja auch eine Frage, die Menschen heute umtreibt: Wie lange wird es wohl dauern?

Die Parallele zum Ostergeschehen entlässt uns mit einer wenig zufriedenstellenden Antwort: Man weiß es nicht! Kein Mensch weiß, wie lange es dauern wird. - Genauso wenig, wie man sagen kann, wie lange die Jünger Jesu in ihrer Schockstarre verharrten, weiß heute jemand, wie lange die Einschränkungen, die uns die Corona-Pandemie auferlegt, noch bleiben müssen.

Ich hoffe so, dass es aber noch eine weitere Parallele gibt. Denn fünfzig Tage nach Ostern waren die Jünger Jesu wieder voll da. Das ist meine Hoffnung am heutigen Ostermontag. Wie lange wird es wohl dauern? Hoffentlich auch hier: längstens bis Pfingsten - möge Gott es geben.

Jörg Sieger

Am ersten Tag der Woche waren zwei von den Jüngern Jesu auf dem Weg in ein Dorf namens Emmaus, das sechzig Stadien von Jerusalem entfernt ist. Sie sprachen miteinander über all das, was sich ereignet hatte. Während sie redeten und ihre Gedanken austauschten, kam Jesus hinzu und ging mit ihnen. Doch sie waren wie mit Blindheit geschlagen, so dass sie ihn nicht erkannten. Er fragte sie: Was sind das für Dinge, über die ihr auf eurem Weg miteinander redet? Da blieben sie traurig stehen, und der eine von ihnen - er hieß Kleopas - antwortete ihm: Bist zu so fremd in Jerusalem, dass du als Einziger nicht weißt, was in diesen Tagen dort geschehen ist? Er fragte sie: Was denn? Sie antworteten ihm: Das mit Jesus aus Nazaret. Er war ein Prophet, mächtig in Wort und Tat vor Gott und dem ganzen Volk. Doch unsere Hohenpriester und Führer haben ihn zum Tod verurteilen und ans Kreuz schlagen lassen. Wir aber hatten gehofft, dass er der sei, der Israel erlösen werde. Und dazu ist heute schon der dritte Tag, seitdem das alles geschehen ist. Aber nicht nur das: Auch einige Frauen aus unserem Kreis haben uns in große Aufregung versetzt. Sie waren in der Frühe am Grab, fanden aber seinen Leichnam nicht. Als sie zurückkamen, erzählten sie, es seien ihnen Engel erschienen und hätten gesagt, er lebe. Einige von uns gingen dann zum Grab und fanden alles so, wie die Frauen gesagt hatten; ihn selbst aber sahen sie nicht. Da sagte er zu ihnen: Begreift ihr denn nicht? Wie schwer fällt es euch, alles zu glauben, was die Propheten gesagt haben. Musste nicht der Messias all das erleiden, um so in seine Herrlichkeit zu gelangen? Und er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. So erreichten sie das Dorf, zu dem sie unterwegs waren. Jesus tat, als wolle er weitergehen, aber sie drängten ihn und sagten: Bleib doch bei uns; denn es wird bald Abend, der Tag hat sich schon geneigt. Da ging er mit hinein, um bei ihnen zu bleiben. Und als er mit ihnen bei Tisch war, nahm er das Brot, sprach den Lobpreis, brach das Brot und gab es ihnen. Da gingen ihnen die Augen auf, und sie erkannten ihn; dann sahen sie ihn nicht mehr. Und sie sagten zueinander: Brannte uns nicht das Herz in der Brust, als er unterwegs mit uns redete und uns den Sinn der Schrift erschloss? Noch in derselben Stunde brachen sie auf und kehrten nach Jerusalem zurück, und sie fanden die Elf und die anderen Jünger versammelt. Diese sagten: Der Herr ist wirklich auferstanden und ist dem Simon erschienen. Da erzählten auch sie, was sie unterwegs erlebt und wie sie ihn erkannt hatten, als er das Brot brach.

Evangelium nach Lukas 24,13-35

Anmerkungen

1 Vgl.Rudolf Schnackenburg, Das Johannesevangelium III (Freiburg 4. Auflage 1982), 461. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Karl Lehmann, Christologie - Vorlesungsskript Wintersemester 1982/83, 78. Zur Anmerkung Button