Predigten aus der Praxis

Ansprachen für Sonn- und Festtage


10. Sonntag im Jahreskreis - Lesejahr A (Mt 9,9-13)

In jener Zeit sah Jesus einen Mann namens Matthäus am Zoll sitzen und sagte zu ihm: Folge mir nach! Da stand Matthäus auf und folgte ihm. Und als Jesus in seinem Haus beim Essen war, kamen viele Zöllner und Sünder und aßen zusammen mit ihm und seinen Jüngern. Als die Pharisäer das sahen, sagten sie zu seinen Jüngern: Wie kann euer Meister zusammen mit Zöllnern und Sündern essen? Er hörte es und sagte: Nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Darum lernt, was es heißt: Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu rufen, nicht die Gerechten. (Mt 9,9-13)

Es war einmal ein weiser König. Und dieser König hatte Mitleid mit den Menschen. Und weil er die Menschen kannte, deshalb wusste er auch, was ihnen fehlte. Er wusste, dass sie krank waren. Er war ein guter König und er liebte die Menschen und er baute deshalb ein großes Krankenhaus für alle seine Untertanen. Und weil er ein weiser König war, deshalb wusste er auch, wie er den Menschen helfen konnte. Und so kümmerte er sich selbst Tag und Nacht um seine Patienten und linderte ihre Beschwerden.

Man erzählte sich von großartigen Heilungserfolgen. Und von überall her kamen die Kranken, um sich gesund pflegen zu lassen. Und die Geheilten, die begann man herumzuzeigen und man war stolz auf sie und betonte immer öfter wie viele es von ihnen gäbe.

So bekamen die Menschen allmählich den Eindruck als gäbe es in diesem Haus nur Geheilte. Und man redete voller Ehrfurcht davon. Und all die Patienten gewöhnten sich so sehr an das Gerede, dass sie immer mehr so taten, als wären auch sie schon geheilt. Und jeder begann so gut es ging, seine Gebrechen zu verstecken.

Diejenigen aber, die ihre Wunden nicht länger verbergen konnten, die trauten sich immer seltener in die Öffentlichkeit. Und nach und nach packten sie ihre Koffer und zogen aus dem Haus aus. Man nannte es nun auch nicht mehr "Krankenhaus", man nannte es "Heim der Geheilten", denn alle, die darin wohnten, gaben vor, ganz besonders geheilt zu sein. Und je mehr sie es vorgaben, desto weniger von ihnen wurden wirklich gesund.

Liebe Schwestern und Brüder,

nur die Kranken brauchen den Arzt, den Gesunden muss er nicht helfen. Und wer sich selbst für gesund hält oder nicht zugibt, dass er den Arzt braucht, wer seine Krankheit verbirgt und damit hinter dem Berg hält, der darf sich nicht wundern, wenn ihm kein Arzt der Welt helfen kann.

Das Krankenhaus aus dieser traurigen Geschichte, das wurde gebaut, um Kranke gesund zu machen - dazu schließlich hat jener König die Menschen aus seinem Reich gesammelt. Genauso hat Jesus Menschen zu sich gerufen, um sie zu heilen. Und die Gemeinschaft, die sich auf ihn zurückführt, die soll daher - vor allem anderen - ein Ort sein, an dem Menschen gesund werden können: Menschen, die in ihrem Leben verwundet wurden, die Scheitern erlebt haben, die nun neue Orientierung und Hilfe zum Leben suchen. Da ähnelt unsere Kirche ganz stark diesem Krankenhaus aus jener Geschichte.

Und genauso wie das Krankenhaus dort, genauso konnte auch diese Kirche immer wieder ganz große Heilungserfolge aufweisen. Und man hat die großen Geheilten, die großen Heiligen aller Zeiten, immer wieder wie Aushängeschilder für die ganze Gemeinschaft verwendet. Aber je mehr man von ihnen sprach, desto mehr wurde aus der Gemeinschaft, in der Verwundete und Kranke geheilt werden sollten, eine heile Gemeinschaft, eine heilige Kirche. Und alle sprachen davon, dass diejenigen, die dort mitmachten, dass die Christen ganz besondere Menschen seien.

Und dort, wo sie es nicht waren, dort tat man ganz einfach so, als ob sie es seien. Und der Heiligenschein, den sich die Gemeinschaft selbst gegeben hatte, der wich immer mehr dem Scheinheiligsein. Die faulen Stellen hinter den Fassaden des Sonntagsanzuges und der Sonntagstracht, die bekam ansonsten niemand zu Gesicht, die wurden fein säuberlich versteckt.

Und wenn einer sein Scheitern nicht mehr verbergen konnte, wenn die Ehe zerbrach, das Kind unehelich auf die Welt kam, die berufliche Laufbahn jäh endete, sich jemand plötzlich auf der Straße wiederfand oder gar straffällig geworden war, dann entrüstete man sich ordentlich über den oder die, die da Schande über die Gemeinschaft brachten, und war innerlich ganz froh, dass die eigenen Fehler nicht so deutlich zutage traten.

Ist es verwunderlich, dass die, auf die man mit Fingern zu zeigen begann, dass die, die in diese hehre spießbürgerlich christliche Gesellschaft so wenig zu passen schienen, dass sie am Ende aus ihr ausgezogen sind, dass die Mühseligen und Beladenen, die Kranken und Schuldbeladenen, die Jesus gerufen hatte, denen er Ruhe verschaffen wollte, dass die sich am Ende von dieser Kirche alles versprachen, nur nicht die Heilung, ja nicht einmal die Linderung ihrer Schmerzen?

Ist es verwunderlich, dass ein ganzes Heer von Journalisten mittlerweile um nichts anderes bemüht ist, als die faulen Stellen hinter den Fassaden aufzudecken und jedes Vergehen von Kirchenmännern ans Tageslicht zu zerren?

Und ist es nicht traurig, dass uns gemeinhin von außen gesagt werden muss, was Jesus wohl tun würde, wenn er heute zur Welt käme; dass er dann wohl kaum bei denen sitzen würde, die in unserer Gesellschaft obenauf schwimmen, bei denen die Vertreter von Kirche aber doch so gerne sitzen.

Eine Kirche, in der Gescheiterte keinen Platz mehr finden und in der sich Sünder nicht geborgen fühlen, die keinen Platz für Wiederverheiratete oder Alleinerziehende hat und in der Priester, die ihren Beruf nicht mehr ausüben können, als Abgesprungene gleichsam gebrandmarkt werden, eine Kirche, die dem Abgeordneten und dem Manager eher nachgeht, als dem Arbeiter, dem Arbeitslosen, dem Obdachlosen, so eine Kirche wäre alles andere, nur nicht Gemeinde Jesu Christi.

Das Krankenhaus, das nur noch Gesunde aufnimmt, geht an seiner Bestimmung vorbei, und es darf sich nicht wundern, wenn es am Ende geschlossen wird.

Jesus ist gekommen, um Sünder zu berufen, nicht die Gerechten, denn er wusste, dass nicht die Gesunden den Arzt brauchen, sondern die Kranken. Und diese Kranken sind wir!

In einer Kirche aber, die sich auf diesen Jesus Christus gründet, ist solch eine Krankheit keine Schande, in so einer Kirche ist Scheitern kein Beinbruch. In seiner Kirche brauche ich nämlich keinen Hehl daraus zu machen, dass auch ich diesen Arzt brauche.

Amen.

Download-ButtonDownload-ButtonDownload-Button(gehalten am 5./6. Juni 1999 in der Peters- und Pauluskirche, Bruchsal)