Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Die Klagelieder ⋅1⋅

Die zweite Liedsammlung der Bibel findet sich im Buch der Klagelieder.

1. Die Bezeichnung des Buches

Während sich in der Septuaginta und der lateinischen Tradition die inhaltliche Bezeichnung "Klagelieder" durchgesetzt hat, heißt das Buch im Hebräischen אֵיכָה [">ekha"], was soviel wie "ach" bzw. "o weh" bedeutet, und zwar nach dem einleitenden "ach", mit dem das erste Klagelied beginnt.

In der hebräischen Bibel steht dieses kleine Buch, wie auch die Psalmen, unter den "Schriften", den כְּתוּבִים ["ketubim"].

2. Der oder die Verfasser der Klagelieder

Die Septuaginta und die Vulgata versehen das Buch der Klagelieder jedoch mit einer Überschrift, in der Jeremia als Verfasser genannt wird. Deshalb stellen die griechische und lateinische Übersetzung das Buch auch unmittelbar hinter das Buch Jeremia.

a. Die Tradition von Jeremia als Verfasser

Die Überlieferung, dass Jeremia der Verfasser der Klagelieder sei, beruht auf 2 Chr 35,25. Dort heißt es:

"Jeremia dichtete ein Klagelied auf Josija bis auf diesen Tag. Man machte es zu einer Satzung in Israel. Siehe, sie sind in den Klageliedern aufgeschrieben." (2 Chr 35,25.)

Der Inhalt der Klagelieder könnte auf den ersten Blick diese Annahme tatsächlich stützen. Er passt durchaus in die Zeit Jeremias.

b. Warum Jeremia die Klagelieder wohl nicht verfasst hat

Allerdings ist es mehr als unwahrscheinlich, dass Jeremia die Klagelieder verfasst hat. Schon beim ersten Lesen fallen Aussagen auf, die Jeremia - nach allem was wir aus seinen authentischen Worten wissen - nie gesagt haben könnte.

  • Es passt absolut nicht zu ihm, wenn die Klagelieder davon sprechen, dass die Prophetengabe erloschen sei (Klgl 2,9)
  • Jeremia hätte auch nie Zidkija loben können, wie es die Klagelieder in Klgl 4,20 tun. Wir wissen von seiner Auseinandersetzung mit ihm.
  • Und am wenigstens hätte Jeremia davon sprechen können, dass er auf ägyptische Hilfe hofft (Klgl 4,17).

Auch die Tatsache, dass Jeremia schon bald nach der Katastrophe von 587 v. Chr. nach Ägypten verschleppt wurde, spricht gegen ihn als Verfasser.

Überhaupt bleibt unsicher, ob die Klagelieder einen oder mehrere Verfasser haben. Möglicherweise waren sie zunächst selbständige Lieder, die erst später in einer Sammlung zusammengefasst wurden.

3. Zum Ort der Entstehung und zum "Sitz im Leben" der Klagelieder

Vermutlich wurden die Klagelieder in Palästina verfasst. Mit großer Wahrscheinlichkeit bald nach der Zerstörung Jerusalems im Jahre 587 v. Chr.

Geschrieben wurden diese Lieder wohl für gottesdienstliche Feiern, die an die Zerstörung Jerusalems erinnern sollten. Nach Jer 41,5 wurden auch nach der Zerstörung auf dem Tempelgelände weiter Gottesdienste gefeiert.

4. Struktur und Aufbau der Klagelieder

Die Klagelieder sind sehr kunstvoll aufgebaut.

Die vier ersten Klagelieder sind alphabetische Lieder. Jede Strophe beginnt der Reihe nach mit einem der Buchstaben des Alphabetes.

Das weit kürzere Volksklagelied (Klgl 5) ist zwar nicht alphabetisch angeordnet, aber es entspricht mit seinen 22 Versen genau der Buchstabenzahl des Alphabetes.

Die Lieder eins, zwei und vier gehören zur literarischen Gattung der קִינָה ["qina"], des Leichenliedes. Das dritte Klagelied ist ein individuelles Lied, das fünfte ein kollektives Klagelied. ⋅2⋅

5. Zur Intention der Klagelieder

Der oder die Verfasser beschreiben in diesen Liedern in bewegten Wendungen die Trauer der Stadt und ihrer Bewohner.

Ähnlich wie das deuteronomistische Geschichtswerk, das ja in seinem historischen Rückblick aus der Exilszeit ein Schuldbekenntnis ablegt, suchen die Klagelieder dabei im Gebet die entstandene Lage zu deuten. Dafür nehmen sie die Anklage und Gerichtsansage der Schriftpropheten auf und gestehen die Schuld des Volkes ein.

So erkennen die Klagelieder zum Beispiel auch die Anklagen als berechtigt an, die die Propheten wegen der Bündnispolitik Israels vorgebracht haben (Klgl 4,17; 5,6-7).

Jetzt aber, in der durch die Schuld Israels entstandenen Not, rufen die Klagelieder Gott an (Klgl 1,21; 2,18). Nach ihrer Auskunft gibt es keinen anderen Tröster mehr (Klgl 1,9. 16-17. 21). Nur der, der geschlagen hat, kann die Bitte hören und vielleicht auch erhören. So lebt das Gebet von einer Gewissheit, die das dritte Klagelied folgendermaßen formuliert:

"Denn nicht verwirft der Herr die Menschen für immer." (Klgl 3,31; vgl. 3,21ff; 4,22.)

Die Klagelieder wagen diese Hoffnung aber nur verhalten - und zwar in Form der Bitte - auszusprechen:

"Kehre uns zu dir, Jahwe, auf dass auch wir uns wenden,
mach unsere Tage wieder wie einst!
Oder hast du völlig uns verworfen,
zürnst uns unerbittlich?" (Klgl 5,21-22.)

Die tiefe Reue und vor allem das unbesiegbare Gefühl des Vertrauens, das die Klagelieder neben dem schmerzlichen Klagen durchzieht, machen den bleibenden Wert des Buches aus.

Die Juden rezitieren die Klagelieder daher auch heute noch beim großen Fasten zum Gedächtnis der Ereignisse um 587 v. Chr. ⋅3⋅

In der katholischen Liturgie verwendet man diese Lieder während der Heiligen Woche, der Karwoche, um des Geschehens auf Golgota zu gedenken.

Weiter-ButtonZurück-ButtonAnmerkungen

1 Vgl.: Alfons Deissler, Anton Vögtle (Hrsg.), Neue Jerusalemer Bibel (Freiburg / Basel / Wien 1985) 1018; Werner H. Schmidt, Einführung in das Alte Testament (Berlin / New York 4. Auflage 1989) 312-314. Zur Anmerkung Button

2 Im Lateinischen wird es Gebet des Jeremia genannt. Zur Anmerkung Button

3 Das Buch gehört mit den Büchern Ester, Rut, Kohelet und dem Hohenlied, zu den sogenannten fünf מְגִלּוֺת ["megillot"], den fünf "Rollen", die man an den hohen Festtagen verlas. Zur Anmerkung Button