Interkulturelle Kompetenz

Herausforderung für unsere Gesellschaft


Zurück-Button 13.12.2023 - Vortrag anlässlich des Fachtages "Caritas und Diversität"

Gottes Vision vom Zusammenleben der Völker

"Ich dachte, wenn man eine Studie in Auftrag gibt, dann tut man das, um am Ende ganz gut dazustehen."

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

das war eine Reaktion darauf, als ich vor einiger Zeit von den Ergebnissen der heute Morgen vorgestellten Untersuchung berichtet habe. Ich kann Ihnen versichern, dass mir nichts ferner lag, als das. Es lag mir nichts ferner, als dafür zu sorgen, dass wir am Ende gut dastehen. Mir ging es von vorneherein um eine wirkliche Beleuchtung des Ist-Zustandes, weil ich davon überzeugt bin, dass wir noch lange nicht wirklich in "einem guten Licht dastehen".

Ich weiß, Vieles hat sich in den zurückliegenden Jahren getan, aber nicht selten konnte man dabei den Eindruck gewinnen, die Entwicklungen seien halt der Not geschuldet und nicht aus wirklicher Überzeugung vorangetrieben worden. Das gilt sowohl für die Caritas als Verband aber noch viel mehr für die katholische Kirche, von der Caritas ja ein wesentlicher Bestandteil ist.

Man darf ja schon die Frage stellen, ob wir uns in den Ortscaritasverbänden auf solch intensive Weise mit der Frage nach interkultureller Öffnung beschäftigen würden, wenn die Zahl der Geflüchteten nicht diese Höhe erreicht und uns gleichsam dazu gezwungen hätte.

Und ob wir im Bereich der Caritas so bereitwillig Menschen aus anderen Kulturen und - was für einen kirchlichen Träger noch einmal eine ganz andere Dimension darstellt - aus anderen Religionen eingestellt hätten, wenn wir durch den Fachkräftemangel nicht dazu gezwungen worden wären oder die Europäische Gesetzgebung nicht weitere Tore aufgestoßen hätte, darf man ja durchaus anzweifeln. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie Kardinal Sterzinsky im persönlichen Gespräch darüber geklagt hat, dass er in Berlin Stellen nicht besetzen könne, weil er keine katholischen Informatiker findet.

Und ohne eine Gesellschaft, die katholische Kirche nicht schon längst so weit links überholt hätte - ob Kirche überhaupt eine Notwendigkeit sehen würde, sich zum Thema LGBTQ irgendwie verhalten zu müssen, ist ja zumindest eine Frage wert. Die große Zahl der Enthaltungen unter den Bischöfen bei den Abstimmungen im Zusammenhang mit den Beschlüssen des Synodalen Weges lässt hier ja doch einige Vermutungen zu.

Insgesamt war und ist dies keine gute Ausgangslage, um sich dem Thema Diversität und Vielfalt im kirchlichen Kontext offensiv zu nähern.

Aber müsste man als aufrechter Katholik nicht sowieso irgendwie ein schlechtes Gewissen dabei haben, wenn man dieses Thema mit Nachdruck verfolgt? Unsere Tradition scheint doch eine ganz andere zu sein. Und unsere kirchlichen Stellungnahmen weisen in Sachen Vielfalt sehr oft auch in eine etwas andere Richtung. Viele Kirchenvertreter betonen ja immer wieder, dass die römisch-katholische Kirche schließlich eine Weltkirche sei und im Blick auf diese weltkirchliche Verfasstheit müsse sich die Vielfalt vor Ort eben in mehr oder minder engen Grenzen halten. Und bei manchen dieser Kirchenvertreter kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr Traum eigentlich diametral entgegengesetzt zu dem was wir "Vielfalt" nennen zu sein scheint. Manchmal geht das schon eher mit der Vokabel "Einfalt" einher.

Das darf aber meines Erachtens nicht unwidersprochen bleiben. Denn wenn man im Blick auf Kirche eine solche Zielrichtung vor Augen hat - davon bin ich überzeugt und deswegen quäle ich Sie in der Folge mit meinen Ausführungen -, wenn man das tut, dann verfolgt man nicht die Intention, die man auf der Basis biblischer Grundlage jenem Gott unterstellen kann, auf den wir uns doch ansonsten so vehement berufen.

Ich bin nämlich davon überzeugt, dass dieser Gott sowohl was diese Kirche angeht, als auch was das Verhältnis der Religionen untereinander betrifft ja, was das Verhältnis der Völker und damit verbunden letztlich aller Menschen dieser Erde angeht, ganz andere Ziele verfolgt.

Deswegen habe ich diese Zeilen auch mit den Worten "Gottes Vision vom Zusammenleben der Völker" überschrieben, wohl wissend, dass ich mit diesem Titel wissenschaftlichen Boden verlasse. Als Theologe redlich kann ich eigentlich nur von "biblischen Grundlagen für das Miteinander der Völker" sprechen, aber erstens klingt mein Titel sehr viel spannender und zweitens glaube ich, dass wir - so wir überhaupt davon überzeugt sind, durch die Texte der Bibel hindurch ein klein wenig von dem erkennen zu können, was sich dieser Gott eigentlich in den Kopf gesetzt hat - dass wir durch die biblischen Texte hindurch die Intention und in unserem Fall deshalb auch so etwas wie eine Vision Gottes zumindest erahnen können.

Jetzt können Sie mir entgegenhalten, dass man aus der Bibel doch eigentlich alles herauslesen könne. Und bei unkritischem Umgang mit den Texten haben Sie da sogar absolut Recht. Und leider ist eine unkritische, also einfach wörtliche und vor allem unhistorische Interpretation der biblischen Bücher nicht erst seit den drei Jesus-Bänden eines Joseph Ratzinger wieder stark auf dem Vormarsch.

Wenn man jetzt also auf diese Weise unkritisch an die Bibel herangeht, dann ist klar, dass man zuallererst und allem voran Texte findet, mit denen man ganz gut belegen könnte, dass es diesem Gott mit Vielfalt und Diversität nicht besonders ernst sein könne. Das beginnt beim Sprechen von einem auserwählten Volk, das dann ja zwangsläufig alle anderen Völker und Kulturen hintansetzen muss, und das hört bei den Grundlagen für eine alleinseligmachende Kirche noch lange nicht auf; denn wenn Kirche alleinseligmachen ist, ist jeder interreligiösen Dialog doch eigentlich schon ad absurdum geführt.

Aber die Bibel ist eben kein Buch, das man unkritisch Wort für Wort einfach auslegen kann. Jedes Wort der Bibel ist von Menschen geschrieben, Menschen, die ihren ganz eigenen Stil und ihren eigenen zeitlichen Horizont mitbringen. Und nur allzu oft spiegeln die Texte einfach den Alltag und die alltägliche Sicht der jeweiligen Zeit ganz einfach wider. Abgesehen von ganz bestimmen Spitzentexten, die gerade deshalb, weil sie aus diesem zeitlichen und kontextuellen Horizont geradezu herausfallen so ungeheuer wichtig und bedeutsam sind.

Einfach ein paar Beispiele: In weiten Teilen des Alten Testamentes wird davon gehandelt, dass Gott nach Opfern verlangt. Und es wird genauestens geregelt, wie diese Opfer aussehen sollen und wo allein sie dargebracht werden können. Das ist die Gedankenwelt, die dem Denken der damaligen Zeit entspricht.

Da muss jetzt geradezu ins Auge stechen, wenn der Prophet Hosea im achten vorchristlichen Jahrhundert, einer Zeit, die eigentlich genau von diesem Denken geprägt ist, diesen Gott sagen lässt: "Barmherzigkeit will ich und keine Opfer." Und es muss aufhorchen lassen, dass ein Jesus von Nazareth sich genau diesen Satz zu eigen macht. Hier kommt offenbar etwas zum Tragen, was weit bedeutender ist, als die vielen Opferanweisungen in den traditionellen biblischen Texten.

Ein weiteres Beispiel: Die Texte der Schrift sind voll von Aufforderungen zum Gebet, zur Gottesverehrung und zum Gottesdienst.

Da muss man geradezu aufmerken, wenn zwischen all diesen Stellen die berühmte Endgerichtsrede darauf verweist, dass am Ende niemand nach Gottesdiensten und Gebet gefragt wird. Die biblische Überlieferung spricht davon, dass der wiederkehrende Herr am Ende einzig und allein danach fragen wird, wie wir es mit der tätigen Nächstenliebe gehalten haben: "Ich war hungrig und Ihr habt mir zu essen gegeben" - "Ich war nackt und Ihr habt mir etwas zum Anziehen gegeben" - "Ich war fremd und Ihr habt mich aufgenommen."

Solche Spitzentexte, die aus der Zeit gleichsam herausfallen, und vor allem, die dem eigentlichen Erwartungshorizont nicht entsprechen, bekommen in einer kritischen Sicht der Schrift eine ganz besondere Bedeutung.

Und eher unwissenschaftlich gesprochen: Sie lassen möglicherweise durch den vor langer Zeit schriftlich verfassten Text hindurch erahnen, was diesem Gott, von dem wir glauben, dass er sich uns mitteilen möchte, wohl ganz besonders wichtig ist.

Und das hat alles andere als lediglich theoretische Bedeutung. Gerade das letzte Beispiel, von der Endgerichtsrede bei Matthäus, dieses: "Alles, was ihr einem meiner geringsten Schwestern und Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan," gerade dieser Text bekommt ganz praktische Bedeutung, wenn es derzeit darum geht, dass sich Kirche auf ihr Kerngeschäft besinnen müsse. Wer dieses Kerngeschäft in Liturgie und Gottesdienst sucht geht nach Auskunft genau dieses biblischen Textes letztlich an der biblischen Botschaft vorbei. Wenn ich diese biblische Botschaft nämlich ernst nehme, dann ist dieses Kerngeschäft, so wie es die Endgerichtsrede bei Matthäus verdeutlicht, nichts anderes als genau diese tätige Nächstenliebe, die Caritas.

Bevor aber jetzt Geschäftsführungen und Vorstände innerlich zu sehr jubilieren, sei der Hinweis erlaubt, dass es sich bei dieser Art von Caritas meist genau um jene Bereiche der verbandlichen Caritas handelt, die am wenigsten refinanzierbar sind.

Aber zurück zu unserem eigentlichen Anliegen. Wir haben bereits gesehen, dass im Blick auf das Thema Vielfalt der zeitgeschichtliche Horizont eher mager ausfällt.

Der biblische Mainstream hat mit Vielfalt nicht wirklich viel am Hut. Alttestamentlich führt am auserwählten Volk kein Weg vorbei. Die einzige Perspektive, die es für die anderen Völker - und damit eben auch für die anderen Kulturen und die anderen Religionen - gibt, ist es, am Ende der Tage nach Jerusalem zum Zion zu ziehen und mit Israel zusammen dort den Herrn zu verehren.

Neutestamentlich sieht es eigentlich gar nicht viel anders aus. Anfangs finden Sie dort nicht minder die Vorstellung, dass es Heil nur über die Zugehörigkeit zum Judentum gibt. Ganz am Anfang der Christenheit stand ja die Frage ob man sich zuerst beschneiden lassen, also Jude werden müsse, um überhaupt die Taufe empfangen zu können, oder ob der Empfang der Taufe auch für Nichtjuden möglich wäre. An dieser Frage ist die frühe Christenheit ja beinahe zerbrochen.

Das ist übrigens ein ganz wichtiger Hinweis darauf, dass der historische Jesus von Nazareth hier keine klaren Aussagen hinterlassen hat. Erst Paulus von Tarsus hat sich hier gegen den massiven Widerstand eines Simon Petrus durchgesetzt und der jüdische Krieg um das Jahr 70 nach Christus hat dann die entsprechenden Fakten geschaffen, indem sich in seiner Folge die judenchristliche Gemeinde zerstreute und letztlich überhaupt keine Rolle mehr spielte.

Aber auch das brachte keinen Durchbruch in Sachen Vielfalt und Diversität. An die Stelle des auserwählten Volkes trat nun das "neue Gottesvolk", die Kirche, die immer stärker den Anspruch "alleinseligmachend" zu sein entwickelte.

Und an diesem Anspruch hat sich auch nichts geändert, als sich diese Kirche in immer mehr Teilkirchen aufspaltete. Man hat sich einfach gegenseitig, abgesprochen, den rechten Glauben zu haben.

Von daher könnte ich eigentlich das Fazit ziehen, dass die Bibel zu unserer Thematik nicht wirklich etwas beizutragen habe. Ich könnte zu dem Schluss kommen - der in manchen Kreisen auch gerne gezogen wird -, dass das Sprechen von Vielfalt und Diversität mit kirchlicher Tradition nichts zu tun habe und letztlich nur dem Zeitgeist geschuldet sei.

Aber dem - Sie ahnen es - dem ist eben nicht so. Es gibt nämlich einen Text in der Bibel, der diesen Erwartungshorizont völlig durchbricht. Für mich gehört dieser Text deshalb auch zu einem der ganz großen Spitzentexte der gesamten Bibel. Und dieser Text beinhaltet für mich sogar den Auftrag, diese Thematik weiter zu betreiben, und nicht zu ruhen, ohne dass die kleinlichen Engführungen, die sich in der Tradition herauskristallisierten tatsächlich überwunden werden.

Ich unterstelle jetzt einmal, dass die meisten von Ihnen diesen Text nicht kennen. Denn selbst eifrigste Kirchgänger, werden ihn kaum einmal gehört haben, er kommt in den Leseordnungen des katholischen Kirchenjahres nämlich schlicht und ergreifend nie vor. In den Gottesdiensten wird er nie verlesen.

Mit einer Ausnahme: Weil mir dieser Text so wichtig ist, habe ich mir herausgenommen, ihn vor einigen Jahren als Lesung in der Christmette vortragen zu lassen und ich habe ihn dann sogar zum Gegenstand der Weihnachtspredigt gemacht.

Bis heute wundere ich mich, wie es dieser Abschnitt überhaupt geschafft hat, durch all die Jahrhunderte hindurch in der Bibel erhalten zu bleiben. Ich frage mich, warum nicht bereits die Schriftgelehrten Alt-Israels den Rotstift angesetzt haben, um ihn in aus der Schrift zu tilgen. Er spricht nämlich von einem Universalismus, wie ihn die Bibel sonst in dieser Direktheit kaum noch einmal kennt. Und wenn ich an eine religiöse Bedeutung der Bibel glaube, dann kann das kaum zufällig sein.

Ich möchte Ihnen diesen Text jetzt vorstellen und um ihn zu verstehen reicht es eigentlich völlig aus, wenn ich Ihnen diese Perikope kommentiert vorlese. Es handelt sich um einen Abschnitt aus dem Alten Testament, genauer gesagt aus dem 19. Kapitel des Jesajabuches.

Textkritisch gehört er dort eigentlich gar nicht hin. Zeitlich atmet er den Hintergrund des Perserreiches. Er entstand also zwei-dreihundert Jahre nach Jesaja in der Zeit zwischen dem sechsten und vierten vorchristlichen Jahrhundert. Die Endredaktion des Jesajabuches hat diese Verse offenbar aufgrund thematischer Überlegungen an dieser Stelle in den Text eingefügt. Im 19. Kapitel geht es nämlich um Ägypten. Seitenweise wettert der Prophet gegen die Feinde Israels, gegen all diejenigen, die das Volk in der Vergangenheit mit Füßen getreten haben. Ihnen wird das Gericht Gottes angedroht.

Nachdem nun über sechs Kapitel bereits die verschiedensten Völker abgehandelt wurden, wird im Verlauf dieses Abschnittes davon gesprochen, wie Gott Ägypten bestrafen und der einstige Widersacher Israels am Boden liegen wird. Und hier fügen sich die Verse dieses Abschnittes zunächst ganz harmonisch ein. Es beginnt nämlich auch hier mit der Bestrafung Ägyptens.

In weiteren Verlauf vollzieht sich aber nun eine ungeheuer interessante Wende. In gleichsam orakelhaften Sprüchen wird nun, ausgehend von Ägypten, eine regelrechte Vision entfaltet.

Schauen wir es uns einfach an: Es beginnt also damit, dass die Ägypter, die für Israel immer in einem Atemzug mit der Erfahrung der Sklaverei genannt werden, vor Schrecken erstarren. Der einstige Unterdrücker ist nun selbst der Gewalt so wehrlos ausgeliefert, dass man seine Lage fast nur mit der Situation von Frauen vergleichen kann, die durch all die Jahrhunderte hindurch immer wieder voller Hilflosigkeit die vollen Schrecken von Kriegen durchlitten haben. Das einst mächtige Ägypten zittert nun bereits, genau auf diese Art und Weise wenn der Name "Juda" nur erwähnt wird.

Das dürfte der Grund dafür sein, warum sich diese Verse in Israel überhaupt erhalten haben, denn so etwas las man damals natürlich gerne.

So heißt es also Jesaja 19,16-17:

"An diesem Tag wird Ägypten sein wie Frauen; und es wird zittern und es wird beben vor dem Schwingen der Hand Jahwes Zebaots, die er schwingt gegen es. Und es wird sein das Land Juda für Ägypten zum Schrecken; sooft man es erwähnt gegenüber ihm wird es erschrecken vor dem Plan Jahwes Zebaots, den er über es beschließt."

Aber dann ändert sich der Tenor komplett.

Genau in dieser Situation beginnen jetzt nämlich "fünf Städte in Ägypten die Sprache Kanaans zu sprechen" (Jesaja 19,18).

"An diesem Tag werden fünf Städte im Land Ägypten in der Sprache Kannaans reden und Jahwe Zebaot schwören. Sonnenstadt wird eine heißen."

Ägypten wird in der Sprache Kanaans sprechen. Hier geht es nicht darum, dass Ägypter plötzlich ihre Begeisterung für Fremdsprachen entdeckt hätten In einer anderen Sprache verehrte man eine andere Gottheit. Den Kult eines Gottes konnte man damals selbstredend nur in der diesem Kult eigenen Kultsprache vollziehen. Wenn in Ägypten in der Sprache Kanaans gesprochen und bei "Jahwe Zebaot", dem Herrn der Heere, geschworen wird, dann bedeutet dies nichts anderes, als dass man in Ägypten plötzlich damit beginnt, Jahwe, den einen Gott, zu verehren.

Und es geht noch weiter:

"An diesem Tag wird ein Altar für Jahwe in der Mitte des Landes Ägypten sein und ein Malstein an der Grenze für Jahwe. Er wird sein zum Zeichen und zum Zeugnis für Jahwe Zebaot im Land Ägypten."

Mitten in Ägypten wird also ein Altar für Jahwe errichtet und Malsteine an den Grenzen verkünden jedem Fremden, der sich dem Land nähert, dass er nun das Land Ägypten, den Herrschaftsbereich des Gottes Jahwe, betritt (Jesaja 19,19).

Jetzt muss man in diesem Zusammenhang zur damaligen Zeit immer mitbedenken: Staaten und Völker sind damals nie nur Staaten und Völker. Sie stehen in der Antike in dem hier zugrunde liegenden geographischen Raum immer für den Herrschaftsbereich von jeweiligen Gottheiten. Jedes der alten Reiche hat seine eigene Staatsreligion, ist immer Herrschaftsgebiet je eigener Götter. Und solche Stelen für die ägyptischen Gottheiten haben sich an den Grenzen Ägyptens bis heute erhalten.

In unserem Text handelt es sich aber nicht um Denkmale für irgendwelche Götter. Die Stelen an den Grenzen verkünden nun jedem, dass Ägypten Territorium des einen Gottes geworden ist.

Das ist für jüdische Ohren der damaligen Zeit, nicht zuerst eine frohe Botschaft. Für Juden der damaligen Zeit, musste das zuallererst völlig absurd, ja wie eine Ungeheuerlichkeit klingen. Denn spätestens seit der Reform unter König Joschija im ausgehenden siebten Jahrhundert vor Christus, gab es nur noch einen einzigen Altar auf dem für Jahwe irgendwelche Opfer dargebracht werden durften und dieser Altar stand im Tempel von Jerusalem.

Ich habe ja bereits mehrfach erwähnt, dass die eigentliche Erwartung Israels die war, dass am Ende der Zeiten alle Völker der Erde genau dort hinkommen und mit Israel zusammen Gott auf dem Zion anbeten. So wie es im übrigen ganz ähnlich - nur unter anderen Vorzeichen natürlich - die Christen hofften und hoffen: dass sich am Ende nämlich alle zum Christentum bekehren und - am besten den Papst an der Spitze - Gott entgegenmarschieren würden.

Dieser Vorstellung erteilt unser Text eine klare Absage. Mitten in Ägypten - nicht auf dem Zion und vor allem ohne Vermittlung Israels - beginnt man plötzlich, Gott zu erkennen und ihn zu verehren.

Israel würde da sagen: Ist doch ganz unmöglich, die müssen doch zuerst zu uns kommen. Und später die Christen würden sagen: Geht doch gar nicht, die müssen doch zuerst getauft werden. Und dann muss das Ganze ja auch noch kirchenrechtlich abgesichert sein...

Die biblische Vision aber kümmert sich wenig um solche Einwände. Der Text der Bibel fährt nun fort:

"Wenn sie" - die Ägypter - "beim Herrn gegen ihre Unterdrücker Klage erheben, wird er ihnen einen Retter schicken, der für sie kämpft und sie befreit." (Jesaja 19,20)

Da wird Ägypten eine Rettergestalt verheißen, ein regelrechter Heilsbringer. Die Ägypter haben ohne Zutun Israels Gott nicht nur auf ihre ganz eigene Weise erkannt und zu verehren begonnen, hier wird darüber hinaus unmissverständlich deutlich gemacht, dass Gott dies honoriert. Er nimmt sich der Ägypter an.

Und weil diese Aussage so etwas von bedeutend ist, wird sie im Sinne des hebräischen Parallelismus sogar noch zweimal wiederholt.

"Und Jahwe wird sich Ägypten zu erkennen geben und Ägypten wird Jahwe erkennen an diesem Tag. Und sie werden mit Schlachtopfern und Speiseopfern dienen. Und sie werden Gelübde geloben für Jahwe und sie erfüllen. Und schlagen wird Jahwe Ägypten (ein) Schlagen und (ein) Heilen und sie werden sich zu Jahwe kehren und er wird sich von ihnen erbitten lassen und sie heilen."

Dann aber fährt der Text fort:

"An jenem Tag wird eine Straße von Ägypten nach" - nein nicht nach Israel -, "nach Assur führen, so dass die Assyrer nach Ägypten und die Ägypter nach Assur ziehen können" (Jesaja 19,23).

Das ist eine Vision der Endzeit, die für damalige Zeiten unvorstellbar war. Die beiden großen Machtzentren, die ehemaligen Todfeinde versöhnen sich. Und das alles geschieht ganz ohne Vermittlung des auserwählten Volkes.

Und dann kommt das für viele letztlich unvorstellbare:

"Und Ägypten wird zusammen mit Assur (dem Herrn) dienen" (Jesaja 19,23).

Unabhängig vom Judentum - heute müsste man ergänzen: unabhängig vom Christentum - die anderen Völker, die ehemaligen Feinde, erkennen den Herrn und verehren ihn auf ihre je eigene Weise.

Das muss man hören auf dem Hintergrund all der Vorstellungen, die sich Menschen normalerweise von Gott und von den Religionen machen. Da kommen die beiden Feindvölker über alle Grenzen von Nation und Religion zum Glauben an den einen Gott und verehren ihn ganz einfach auf ihre je eigene Weise - und was diesen Text so herausragend macht: Diesem Gott ist das recht!

Gott verlangt nicht danach, dass sich die Völker einigen, dass die Staatsreligionen miteinander abgeglichen und zu einer einzigen Religion uniert werden. Jede dieser Nationen verehrt auf ihre eigene Weise mit ihren eigenen religiösen Ausprägungen und Traditionen den einen Gott. Und dann setzt der biblische Text sogar noch einmal eins drauf:

"An jenem Tag wird Israel" - nicht als erstes - "als drittes dem Bund von Ägypten und Assur beitreten, zum Segen für die ganze Erde" (Jesaja 19,24).

Das auserwählte Volk stößt als letztes dazu! Und wenn wir das Ganze in die heutige Zeit übertragen, steht plötzlich die Frage im Raum, wann die alleinseligmachende Kirche begreifen würde, was der Herr da unter den Völkern wirkt, wann wir uns aufraffen würden, solch einem weltumspannenden Friedensbund die Hand zu reichen.

Und der abschließende Satz, wirft alles, was es an traditionellen Engführungen im Blick auf Gott, Religion und Kirche gibt, letztlich über den Haufen. Eigentlich unvorstellbar, was der biblische Text im Horizont des Alten wie auch des Neuen Testamentes Gott hier sagen lässt. Es heißt:

"Denn der Herr der Heere wird sie segnen und sagen: Gesegnet ist Ägypten, mein Volk," - nicht mein Volk Israel: "mein Volk Ägypten!" - und Assur, "gesegnet ist Assur, das Werk meiner Hände, und Israel," - ganz am Ende - "Israel mein Erbbesitz" (Jesaja 19,25).

Für mich ist das die großartigste Vision, die die Bibel vom Zusammenleben der Völker und vom Zusammenwirken der Religionen entfaltet. Jedes Volk, jede Religion auf je eigene Weise aber verbunden einzig und allein durch diesen Gott, auf den alle verwiesen sind. Nicht in der Gleichmacherei, nicht in der Unterordnung und schon gar nicht in der Unterwerfung, in Diversität und Vielfalt, im versöhnten Nebeneinander, das den friedlichen Austausch kennt und anerkennt, dass alle auf ihre Weise Anteil an der Erkenntnis und der Wahrheit haben - sowohl was die staatliche Existenz angeht, als auch was das Miteinander von Religion betrifft.

Das ist für die Bibel, die Vision für die Endzeit und die Basis für einen weltumspannenden Frieden. Und für uns, für uns muss es der Ansporn sein, uns genau für dieses versöhnte Miteinander in Vielfalt ohne nachzulassen einzusetzen.

(Jörg Sieger, Bruchsal-Untergrombach)

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