Interkulturelle Kompetenz
Herausforderung für unsere Gesellschaft
Perspektivenwechsel
- Was für ein Bild der Welt haben wir?
- Wenn aus einer Kugel eine Fläche wird
- Eine flächentreue Darstellung der Welt: die "Peters-Projektion"
- Was ist oben, was ist unten? Was ist richtig, was ist falsch?
Für viele Menschen sind die Jahrhunderte, bevor Humanismus und Aufklärung den Blick der Menschheit geweitet haben, das "dunkle Mittelalter". Im Vergleich zu den wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften unserer Epoche macht die mittelalterliche Gesellschaft auf den modernen Menschen einen gemeinhin rückständigen Eindruck.
Was für ein Bild der Welt haben wir?
"Ein Missionar des Mittelalters erzählt,
dass er den Punkt gefunden hat,
wo der Himmel und die Erde sich berühren...,
aus: Camille Flammarion: L'atmosphère, Paris 1888, Seite 163"
Lizenz: Anonymous - Unknown author,
Flammarion,
als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Sehr deutlich machen die unterschiedlichen Weltbilder, die die jeweiligen Zeiten prägten, diese Entwicklung von falschen Vorstellungen zu einer wirklich wissenschaftlichen Beschreibung der Welt: angefangen von der antiken Vorstellung, dass die Erdscheibe auf Säulen ruht, vom Ur-Ozean umgeben und vom Himmel wie von Schalen überwölbt ist, bis hin zum Streit zwischen Galilei und der kirchlichen Inquisition am Beginn der Neuzeit.
Welch ein Fortschritt, zu erkennen, dass die Welt keine Scheibe, sondern annähernd eine Kugel ist. Welche Möglichkeiten hat Christoph Kolumbus eröffnet, indem er den Weg nach Westen einschlug, um an das "östliche Ende der Erde" zu gelangen.
Seither haben Menschen einen anderen Blick auf die Welt, wir sehen die Welt richtig - nicht so, wie es die Menschen des Mittelalters getan haben...
Aber ist das wirklich so? Menschen sind immer sehr schnell dabei, sich in der Vorstellung zu sonnen, Dinge nicht nur richtiger zu sehen und anzugehen, sondern dies sogar einzig richtig zu tun. Bei uns ist es normal, anderswo ist es komisch. Wir machen es richtig, andere machen es falsch.
Am Beispiel des Weltbildes lässt sich dies sehr schön verdeutlichen. Machen Sie selbst die Probe aufs Exempel. Dazu brauchen wir nur auf die Welt zu blicken - so, wie wir sie kennen und sehen.
Und unser Bild von der Welt ist geprägt durch die Weltkarten, die wir kennen.
Mercatorprojektion der Welt mit den Staaten der Erde
Lizenz: Allesmüller, Worldmap-Mercator, CC BY-SA 3.0
Und welches Land ist nun größer? Großbritannien oder Madagaskar? Schweden oder Ägypten? Ist Frankreich größer als das afrikanische Niger? Und ist China nicht kleiner als Grönland?
Viele Menschen reagieren völlig überrascht, wenn man Sie mit den Zahlen konfrontiert:
Madagaskar ist mit 587.041 qkm mehr als doppelt so groß wie Großbritannien (243.610 qkm), Frankreich (643.801 qkm) ist lediglich beinahe halb so groß wie Niger (ca. 1.267.000 qkm). Schweden reicht mit 447.420 qkm nie an Ägypten (1.001.449 qkm) heran und China (9,571.302 qkm) ist in Wirklichkeit über viermal so groß wie Grönland (2.155.986 qkm).
Wir wissen vieles über die Erde, was die Menschen des Mittelalters nicht wussten. Wir haben ein ganz anderes Bild von der Welt. Unser Bild ist aber dadurch keineswegs "das richtige" Bild. Es ist einfach anders - und in einigen Punkten ist es ganz einfach "anders falsch", als es das der Menschen in früheren Zeiten gewesen ist.
Woran das liegt, lässt sich in diesem Fall recht einfach erklären.
Wenn aus einer Kugel eine Fläche wird
Gerhard Mercator,
Kupferstich von Frans Hogenberg, 1574,
in: Atlas sive Cosmographicae Meditationes
de Fabrica Mundi et Fabricati Figura (1595)
Lizenz: Frans Hogenberg creator QS:P170,Q959748
Gerardus Mercator author QS:P170,Q6353, Gerardus Mercator 3,
als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons
Die meisten unserer gebräuchlichen Weltkarten gehen auf die Projektion des Geographen Gerhard Mercator (1512-1594) zurück. Mercator versuchte das Problem zu lösen, die Oberfläche einer Kugel auf eine ebene Fläche zu übertragen. Das ist schlechterdings unmöglich. Wenn man dies versucht, kommt man um Einschränkungen nicht herum. Entweder stimmen die Längendarstellungen nicht mehr oder die Winkel sind verzerrt oder aber die Flächen werden anders als in der Wirklichkeit wiedergegeben.
Wenn Sie es selbst ausprobieren möchten: Versuchen Sie die Fetzen eines geplatzten Luftballons so auf ein Stück Karton zu kleben, dass ein Rechteck ordentlich ausgefüllt ist. Sie werden nicht darum herum kommen, die oberen und unteren Bereiche entsprechend zu ziehen und zu dehnen.
Bei einer Kartenprojektion muss man sich demnach entscheiden. Was will man "getreu" wiedergeben: die Flächen, die Längen oder die Winkel? Mercator hat sich für eine winkeltreue Projektion entschieden, die nicht zuletzt für die Schifffahrt von besonderer Bedeutung ist. Dadurch werden die Flächen aber verzerrt dargestellt. Die Weltkarte, die wir kennen, ist nicht flächentreu. Damit aber entspricht das Bild der Welt, das unsere Vorstellung geprägt hat - das Bild der Welt, das wir im Kopf tragen, - bezüglich der Flächen nicht dem wirklichen Bild der Erde. Unser Bild von der Welt ist diesbezüglich letztlich falsch. Und die meisten Menschen unter uns sind sich dessen nicht wirklich bewusst.
Eine flächentreue Darstellung der Welt: die "Peters-Projektion"
Die Weltkarte "Perspektive wechseln!" finden Sie hier in höherer Auflösung: welt.pdf
Umso überraschter sind viele beim Anblick einer Erdkarte, die die Welt flächentreu abbildet. Darum bemüht sich beispielsweise die Karte, die 1974 der Historiker Arno Peters geschaffen hat. Seine Projektion der Welt auf ein rechteckiges Blatt Papier verzerrt natürlich auch, stellt aber die Flächen im Verhältnis zueinander richtig dar.
Peters-Projektion der Welt mit den Staaten der Erde
Lizenz: MAPS IN MINUTES™ 2016 (bearbeitet durch: Engagement Global / Bildung trifft Entwicklung)
Dadurch entsteht nun aber ein ganz anderes Bild der Welt. Es wird beispielsweise deutlich, wie groß der afrikanische Kontinent im Verhältnis zu Europa in Wirklichkeit ist und welch falsche Vorstellungen von den Dimensionen unser Bewusstsein in der Regel prägen. Und es wird auch deutlich, dass Europa weit weniger dominant ist und auch viel weniger zentral liegt als es uns die Darstellung der uns gewohnten Kartenprojektion suggerieren.
Und die Karte, die "Engagement Global" ⋅1⋅ herausgegeben hat, macht noch etwas anderes deutlich: Warum denn stellen wir uns die Welt wie oben abgebildet vor? Warum denn nicht wie auf der unteren Darstellung?
Peters-Projektion der Welt mit den Staaten der Erde
Lizenz: MAPS IN MINUTES™ 2016 (bearbeitet durch: Engagement Global / Bildung trifft Entwicklung)
Wir haben uns so daran gewöhnt, dass Norden "oben" ist, dass jede andere Darstellung als "nicht normal" erscheint. Aber warum soll Süden nicht auch "oben" sein? Den Menschen in Australien oder Brasilien käme diese Darstellung der Welt sicher mehr entgegen als unsere klassische Weltkarte.
Mittelalterliche Karten setzten übrigens häufig Osten nach oben. Sie richteten die Darstellung nach Jerusalem aus. Von dieser Gestaltung in Richtung "Orient" (= Osten) leitet sich ja letztlich auch unser Wort "Orientierung" ab.
Was ist oben, was ist unten? Was ist richtig, was ist falsch?
Eigentlich ist die Festlegung, was wir "obenhin setzen", völlig willkürlich. Aber sie prägt dennoch unsere Vorstellung und unser Denken - vor allem in einem kulturellen Umfeld, in dem "oben" meist mit "höher" und auch "höherwertig" gleichgesetzt wird. Wer bei uns höher sitzt als andere, hat meist auch eine herausgehobene Position und damit größere Bedeutung.
Dass wir die Welt normalerweise aus unserer Perspektive betrachten und dass uns das eigene Umfeld näher ist als entferntere Regionen, ist letztlich selbstredend überhaupt kein Problem. Und dass ich das Gefühl entwickle, dort wo ich lebe, ist das "Zentrum der Welt", entspricht vermutlich ganz einfach menschlichem Empfinden. Wir sehen die Welt mit unseren Augen und aus unserer Perspektive. Und dazu gehört vermutlich auch, dass wir das Bewusstsein entwickeln: So wie es bei uns ist, so ist es "normal" - und das geht meist Hand in Hand mit der Vorstellung: So ist es auch "richtig".
Ich muss mir nur bewusst machen, dass es anderen Menschen auch so geht. Tue ich das nicht, sind Konflikte und Missverstehen vorprogrammiert.
Besonders deutlich wurde mir das, als ich den Straßenverkehr in Ägypten erlebt habe.
Wir lernen von klein auf, uns an den Verkehrszeichen und vor allem an den Ampeln zu orientieren. Wir schauen gemeinhin einzig auf das Ampelsignal. Und meist achten wir nicht einmal mehr auf das, was der Verkehr in den Seitenstraßen tut.
Gut kann ich mich noch daran erinnern, wie ich während meiner Fahrschulzeit an einer grünen Ampel erst einmal nach rechts und nach links sah, worauf mein Fahrlehrer ganz unwirsch meinte: "Es ist Grün! Fahren Sie los!" Bei "Grün" muss man bei uns losfahren! Der Hintermann würde sich bedanken, wenn man länger verweilen würde, um sich erst einmal ausgiebig umzusehen. Und man kann bei uns auch bei "Grün" fahren, weil man davon ausgehen darf, dass sich alle anderen auch an die Verkehrszeichen halten.
Verkehr in Bab el Luk, Kairo, 1.2.2007
Lizenz: walidhassanein - Cairo Traffic Jam, CC BY-NC-ND 2.0
"Grün heißt, man muss fahren - Rot bedeutet, man kann fahren!" erklärte mir mein Begleiter in Ägypten, als wir mit dem Wagen durch Kairo unterwegs waren.
Kaum einmal achtete dort jemand auf irgendwelche Ampelsignale. Und ich fragte mich die ganze Zeit, warum in diesem Verkehrsgewühl nicht mehr passierte. Und es passierte im Grunde erstaunlich wenig.
"In Ägypten fährst Du immer vier Autos", erklärte mir mein Begleiter, "Du fährst Dein eigenes und auch das, das Dir entgegenkommt und die beiden, die sich von rechts oder links her nähern." Das war der große Unterschied! Hier achtete man offenbar nicht auf Schilder, hier schaute man einfach darauf, was die anderen machen. Und wenn jemand hielt oder verlangsamte, hieß das, dass man selbst eben fahren konnte. Das funktioniert! Und das konnte man bis vor wenigen Jahren - und kann es da und dort sogar bis heute - ja auch noch sehr ausgeprägt in Italien etwa erleben.
Wenn alle auf die anderen achten, funktioniert der Verkehr ganz gut. Und wenn alle auf die Schilder schauen und sich daran halten, passiert in der Regel ebenfalls nichts. Es wäre erst dann eine Katastrophe, wenn ich in Ägypten plötzlich an einer roten Ampel einfach stoppen würde oder der Ägypter bei uns meinen würde, der ihm entgegenkommende Linksabbieger würde schon merken, dass er selbst noch durchfahren wolle, obwohl der Abbiegeverkehr doch bereits "Grün" bekommen hat.
Für mich ist an dieser Stelle entscheidend, dass jedes dieser Systeme, den Straßenverkehr zu meistern, für sich genommen funktioniert. Beide sind anders, keines ist wirklich richtig und keines wirklich falsch. Damit Menschen sich gegenseitig verstehen, muss man lediglich wissen, von welchen Vorstellungen der jeweils andere geprägt ist. Wenn man die Welt immer nur durch die eigene Brille betrachtet, wird man den meisten Menschen, die einem während seines Lebens über den Weg laufen, nur mit Kopfschütteln begegnen. Wirkliches Verstehen beginnt erst dort, wo ich die Fähigkeit entwickle, die Dinge mit den Augen des anderen zu sehen.
Dazu muss ich zuallererst damit aufhören, in den Kategorien von "normal" und "komisch" oder "richtig" und "falsch" zu denken. Zunächst einmal muss ich einfach wahrnehmen und genau hinschauen - und das, ohne gleich einzuordnen und zu bewerten. Dann bekomme ich die Möglichkeit, annähernd zu begreifen, wie andere denken, was sie so und nicht anders handeln lässt. Und ich kann den Versuch unternehmen, mich in den anderen hineinzuversetzen, die Perspektive zu wechseln.
Immer dort, wo Menschen dies gelingt - im Umgang mit Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, in der Begegnung mit Menschen aus unserem engsten Umfeld, selbst in Bezug auf die eigene Partnerschaft - immer dort besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Begegnungen und Beziehungen glücken. Wo ich die Welt und die Dinge aber lediglich durch meine eigenen Augen und aus meiner eigenen Perspektive betrachte, geht das Miteinander unterschiedlicher Menschen in aller Regel schief.
Dr. Jörg Sieger
Anmerkungen