Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Die Ausarbeitung der Neueren Urkunden-Hypothese zum System von Karl Heinrich Graf und Julius Wellhausen ⋅1⋅

Umstritten blieb jetzt vor allem die historische Abfolge der vier Quellenschriften. Welche der vier Schichten war die älteste und in welcher Reihenfolge sind sie entstanden?

1. Die Auseinandersetzung um das Alter der elohistischen Grundschrift

a. Ist die erste elohistische Grundschrift (P) die älteste Schicht?

Die Frage nach der zeitlichen Abfolge der verschiedenen Schichten wurde von Hupfeld, zumindest was drei Quellen angeht ja schon einmal zu beantworten versucht. Hupfeld ging davon aus, dass die sogenannte elohistische Grundschrift die älteste sei, der zweite Elohist wäre dann die zweite Quelle und der Jehovist der jüngste dieser drei Stränge.

Dies gilt es nun weiter zu untersuchen.

Die elohistische Grundschrift oder der sogenannte erste Elohist lässt sich dabei zum Teil ganz gut abgrenzen. Er schien sogar so etwas wie das Gerüst des ganzen Pentateuch zu sein. Man stellte fest, dass etwa

  • der erste Schöpfungsbericht
  • die ganzen genealogischen Teile, also die Abstammungslisten,

quasi der ganze inhaltliche rote Faden der Genesis zu dieser Grundschrift gehörte.

Literarkritisch betrachtet bildete dieser erste Elohist also das Gerüst des Pentateuchs. Hieß dies allerdings auch schon - wie Hupfeld vermutete -, dass diese Quellenschicht die älteste Schicht des Pentateuchs war?

Wir kommen nun also zur Frage, welchen Stellenwert in der zeitlichen Abfolge die damals sogenannte elohistische Grundschrift wirklich hatte.

Diese Frage war nun nicht mehr rein literarkritisch zu beantworten. Man musste jetzt literarhistorisch an das Problem herangehen.

b. Die elohistische Grundschrift als jüngste Schicht

Bereits im Jahre 1833 vermutete Eduard Reuß (1804-1891), dass die sogenannte "erste elohistische Grundschrift" (P), von der Hupfeld ausging, nicht die älteste Schicht des Pentateuchs sein könne. Sie könne dementsprechend auch nicht das ursprüngliche Grundgerüst der Tora darstellen.

Reuß meinte vielmehr, dass genau diese Teile des Pentateuchs, die man zur "ersten elohistischen Grundschrift" zählte, die jüngsten Teile seien. Verantwortlich für seine Auffassung waren vermutlich vor allem stilistische Beobachtungen.

Karl Heinrich Graf wies dann im Jahre 1866 nach, dass weder das Buch Deuteronomium noch die älteren geschichtlichen Bücher des Alten Testamentes, also die Bücher Richter bis Könige, diese sogenannte "erste elohistische Grundschrift" zu kennen schienen.

An keiner Stelle in diesen Büchern wird diese Schicht vorausgesetzt, nirgendwo wird auf sie Bezug genommen, an keiner Stelle wird sie zitiert. Es gibt also keine nachweisbaren Bezüge des Deuteronomiums oder der Bücher Richter bis Könige, auf die sogenannte elohistische Grundschrift.

Das ist aber ein Umstand, der zu denken geben muss. In den Büchern des Alten Testamentes sind vielfältige Bezugnahmen auf jeweils ältere Bücher an der Tagesordnung. Die genannten Bücher hätten sowohl den Text als auch das Gedankengut der vermuteten elohistischen Grundschrift sicher verarbeitet, wenn dieser bzw. dieses zum Zeitpunkt ihrer Abfassung bereits vorhanden gewesen wäre.

Damit lag die Folgerung nahe, dass die sogenannte elohistische Grundschrift jünger sein müsse als die Bücher Richter bis Könige und auch jünger als das Buch Deuteronomium.

2. Die Theorie von Julius Wellhausen

Vor allem Julius Wellhausen - der eigentliche Pionier der literar-historischen Methode - hat diese These dann untermauert.

a. Julius Wellhausen

Der evangelische Exeget Julius Wellhausen wurde am 17. Mai 1844 in Hameln geboren. Er war Schüler Heinrich Georg August Ewalds in Göttingen und wurde 1872 Professor für AT in Greifswald. Von seiner Kirche angefeindet wurde er 1882 außerordentlicher Professor für semitische Sprachen in Halle. 1885 berief man ihn dann wieder als ordentlichen Professor nach Marburg. Von 1892 bis 1913 war er als Nachfolger P. A. de Lagardes in Göttingen tätig. Dort starb er am 7. Januar 1918. ⋅2⋅

b. Die Gesetzestexte der elohistischen Grundschrift in der Sicht von Julius Wellhausen

Seine ausführlichen Studien am Text förderten ähnliche Ergebnisse zu Tage, wie wir sie oben bei Karl Heinrich Graf gesehen haben. So ging auch Julius Wellhausen davon aus, dass die elohistische Grundschrift die jüngste Schicht des Pentateuchs sei.

Wellhausen war in seiner Forschung allerdings nicht frei von Vorurteilen. Er ging zuweilen recht tendenziös vor, was den Wert seiner Forschungsarbeit später heftiger Kritik aussetzte. Und das hängt vor allem mit seiner Einstellung zu Gesetzestexten zusammen.

Gesetze waren für Wellhausen immer Zeugnisse der Erstarrung. Er ging davon aus, dass in der Frühzeit keine oder kaum Gesetze vorhanden waren. Am Anfang stand nach Julius Wellhausen eine urwüchsige, kraftvoll, prophetische Jahwereligion. Dieser urwüchsige Glaube sei dann immer mehr in einer Gesetzesfrömmigkeit erstarrt.

Deshalb waren Gesetzestexte für Julius Wellhausen immer späte Zeugnisse einer Erstarrung. Die Gesetze des Pentateuchs konnten für ihn daher auch nicht am Anfang der Entwicklung gestanden haben. Sie waren ja - nach seiner Auffassung - vielmehr der Endpunkt der Entwicklung.

Die damals so genannte elohistische Grundschrift ist nun aber gerade die Schicht des Pentateuchs, die die meisten und vor allem die großen Gesetzespassagen enthält. Das war für Julius Wellhausen ein ganz wichtiges Indiz dafür, dass sie nicht die älteste Schicht des Pentateuchs sein konnte.

Wellhausen dürfte hier stark von der idealistischen Religions- und Geschichtsphilosophie Hegels geprägt worden sein. Seine schematische Evolution von einer polytheistischen Beduinenreligion bis zu einer Gesetzesreligion unter Absehung einer Offenbarungs- und Heilsgeschichte scheint von ihm im Anschluss an Hegel formuliert worden zu sein.

Sicher spielt bei Wellhausen auch die romantische Grundhaltung seiner Zeit mit ihrer Vorstellung von urtümlicher Religiosität eine Rolle. Auf diesem Hintergrund ist die Entstehung seines Gedankenganges zu sehen.

Festzuhalten ist, dass Wellhausen aus all seinen Überlegungen und seinen Untersuchungen folgerte, dass die elohistische Grundschrift unmöglich die älteste Schicht des Pentateuchs sein könne. Sie sei vielmehr als äußerst jung zu betrachten. Neben literarhistorischen Argumenten war für Wellhausen dabei ausschlaggebend, dass die elohistische Grundschrift bereits die Spuren der Erstarrung in einem dezidierten Gesetzeswerk zeige.

c. Die "elohistische Grundschrift" als in Priesterkreisen entstandene "Priesterschrift" (P)

In der Folge hat man sich dann darum bemüht, zu zeigen, dass diese nun neu datierte elohistische Grundschrift in Priesterkreisen entstanden sein müsse. Auch hier waren die Gesetzestexte ein wichtiges Indiz dafür. Solche Gesetzessammlungen wurden ja vornehmlich in Priesterkreisen tradiert. Aber auch das Interesse dieser elohistischen Schrift an allem, was mit dem Kult zu tun hat unterstreicht die These, dass ihr oder ihre Verfasser in der Priesterschaft zu suchen seien.

So stand am Ende dieser Untersuchungen als vorläufiges Ergebnis fest: Der von Hupfeld postulierte erste Elohist ist keine Grundschrift des Pentateuchs. Er ist vielmehr eine junge, vielleicht die jüngste Schicht des Pentateuchs.

Entstanden ist sie wohl in Priesterkreisen. Von daher nennt man diese bis zu diesem Zeitpunkt meist "elohistische Grundschrift" genannte Schicht des Pentateuchs in der Folge die "Priesterschrift" (P). ⋅3⋅

d. Die Datierung des Deuteronomiums

Während die Datierung der nun sogenannten Priesterschrift größerer Anstrengungen und Diskussionen bedurfte, war die Einordnung des Deuteronomiums recht einfach.

Für die Datierung des Deuteronomiums konnte sich Julius Wellhausen auf Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Eduard Reuß und Karl Heinrich Graf beziehen. De Wette hatte das Deuteronomium ja mit dem Bericht von 2 Kön 22,3ff in Verbindung gebracht.

Wenn dieses Buch aber um 621 v. Chr. aufgefunden wurde, dann erschien es als sehr wahrscheinlich, dass es wenige Jahre zuvor auch entstanden sei.

Man ging damals sogar davon aus, dass es am damaligen Tempel verfasst wurde. Julius Wellhausen meinte gar, dass es gleichsam als "pia fraus" eingeführt worden sei. Die Priester hätten dieses Gesetzbuch geschrieben, das fertige Werk dann am Tempel versteckt, es angeblich per Zufall auffinden lassen und dann anschließend als altes Werk ausgegeben. ⋅4⋅ Der Bericht mit der Prophetin Hulda war für Wellhausen die prophetische Legitimation eines möglicherweise gar nicht so alten Gesetzbuches. - Eine Theorie, die übrigens auch heute noch zahlreiche Anhänger hat.

Damit war aber klar, dass das Buch Deuteronomium auf jeden Fall vor 621 v. Chr. entstanden sein musste. Mit der Spätdatierung der Priesterschrift ergibt sich von daher schon einmal die Reihenfolge: Deuteronomium (D) - Priesterschrift (P). ⋅5⋅

e. Die Datierung von Jahwist und Elohist

Wenn man von Wellhausens Voraussetzungen ausgeht, dann war es nicht besonders schwer, nun auch die zunächst jehovistisch später jahwistisch genannte Schicht (J) und die 2. elohistische Grundschicht, die nun weitgehend einfach Elohist (E) genannt wurde, miteinander in Beziehung zu setzen.

Man stellte fest, dass in den jahwistischen Texten noch viel ungenierter von mehreren Göttern gesprochen wurde, als in denen der sogenannten elohistischen Schicht. Da man aber von der Grundvoraussetzung ausging, dass die religiöse Entwicklung von einem Geisterglauben und primitiven Polytheismus über den Henotheismus zum prophetischen Monotheismus verlief, um dann in der jüdischen Gesetzesreligion zu erstarren, ⋅6⋅ war es ein leichtes, in den jahwistischen Texten die ältesten zu entdecken.

Da in J die polytheistischen Züge stärker waren als in E, musste J auch vor E verfasst worden sein.

f. Das Ergebnis Wellhausens

Wellhausen geht dementsprechend von vier Quellenschichten und einer Abfolge J - E - D - P aus. Diese Abfolge entspräche am ehesten der religiösen Entwicklung Israels.

  • der Jahwist oder Jehovist (J) - wie er damals noch genannt wurde - sanktioniert die Vielheit der Altäre. Er steht dementsprechend auf dem Hintergrund eines primitiven Polytheismus und Geisterglaubens. Wellhausen siedelt ihn Anfang des 9. Jh. im Südreich (Jerusalem) an.
  • der Elohist (E) geht davon aus, dass die anderen Götter keine Macht haben. Er ist also in einer weiteren Entwicklungsstufe auf dem Hintergrund eines Henotheismus zu sehen. Er soll um 800 im Nordreich entstanden sein.
  • das Deuteronomium (D) fordert die lokale Einheit des Gottesdienstes, ist damit Ausdruck eines reinen Monotheismus. Es ist nach Wellhausen um 625 in Jerusalem entstanden.
  • der Priestercodex (P) setzt die lokale Einheit des Kultes voraus und überträgt sie mittels des "Zeltheiligtum" bereits in die Wüstenzeit (Retrojektion). Er ist geprägt durch eine weitere Entwicklung der israelischen Religion hin zu einer Gesetztesfrömmigkeit. Daher dürfte er nach Wellhausen in der babylonischen Gefangenschaft entstanden sein.

Gemäß Wellhausens Theorie wurden diese einzelnen Dokumente laufend zusammengefaßt. So habe z. B. um 700 v. Chr. ein Redaktor aus der jahwistischen und elohistischen Schicht eine Redaktion von Jahwist und Elohist (R:J,E) hergestellt. Im 6. Jahrhundert sei dann die Redaktion aus Jahwist, Elohist und Deuteronomium (R:J,E,D) entstanden, bevor dann der Pentateuch abschließend durch P ergänzt und darüber hinaus mit einem priesterschriftlichen Rahmen versehen worden wäre. Damit hätte dann die Endredaktion des Pentateuchs vorgelegen. ⋅7⋅

Mit Esra ist der Pentateuch für Wellhausen abgeschlossen. Esra selbst hat nach Wellhausen wohl abschließend noch mit der Pentateuchredaktion zu tun gehabt. ⋅8⋅

g. Die Forschungstendenzen Wellhausens

Mit dieser komplexen Theorie wurde wohl der bedeutendste historische Versuch einer Erklärung der Entstehung des Pentateuchs geschaffen.

Das nach Karl Heinrich Graf und Julius Wellhausen benannte System wurde in mehreren Schriften dargelegt. ⋅9⋅ Es hat in der Folge ungeheure Bedeutung erlangt und ist für die nachfolgende Forschung bestimmend geblieben, und zwar bis hinein in unsere Tage.

Wichtig ist allerdings festzuhalten, dass dieses System von vier Forschungstendenzen geprägt ist, die nicht übersehen werden dürfen. Es sind dies gleichsam vier Axiome, auf denen das System ruht, die aber allesamt immer wieder Anlass zu wissenschaftlichen Diskussionen gegeben haben:

  • Zum einen geht das System von der Annahme aus, dass es ursprünglich selbständige Urkunden gegeben habe. Hier folgt Wellhausen ganz der älteren sowie der neueren Urkunden-Hypothese.
  • eine zweite wichtige Stütze des Systems ist die Verortung der Quellen in der Religionsgeschichte Israels. Dies ist vor allem im Blick auf die Datierung des Deuteronomiums wichtig. Die Identifikation des Deuteronomiums mit dem um 621 v. Chr. aufgefundenen Gesetzbuch ist eine wesentliche Voraussetzung der Wellhausen'schen Theorie (Wilhelm Martin Leberecht de Wette, Heinrich Ewald).
  • Dritte Voraussetzung ist die Spätdatierung der Priesterschrift (Eduard Reuß, Karl Heinrich Graf). Und diese hängt wiederum sehr stark mit der vierten Forschungstendenz zusammen nämlich der
  • idealistischen Religions- und Geschichtsphilosophie Hegels (Wilhelm Martin Leberecht de Wette, vor allem Vatke) sowie einer romantischen Grundhaltung, die sich darin äußert, dass die Gesetze des Pentateuchs als ziemlich späte Zeugnisse der Erstarrung einer zuvor urwüchsigen, kraftvollen und prophetischen Jahwereligion betrachtet werden.

Diese vier Axiome, die das Wellhausen'sche System tragen, waren denn auch die eigentlichen Angriffspunkte der Kritik.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Lothar Ruppert, Einleitung in das Alte Testament (Teil I) - autorisierte Vorlesungsmitschrift (WS 1984/85) 68-76. Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Vinzenz Hamp, Josef Schmid, Art.: Wellhausen, in: LThK (1965) X/1020-1021. Zur Anmerkung Button

3 Die Spätdatierung von P verfocht dann auch Abraham Kuenen (1828-1891). Zur Anmerkung Button

4 Vgl.: Alfons Deissler, Einleitung in das Alte Testament - Zusammenschrift entsprechend einer autorisierten Vorlesungsmitschrift des WS 1969/70 bzw. einer nicht autorisierten Mitschrift anhand von Bandaufnahmen des WS 1976/77 mit teilweisen Ergänzungen für das WS 1979/80 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.) 63. Zur Anmerkung Button

5 Nach Otto Eißfeldt, Eduard Reuß und Karl Heinrich Graf. Zur Anmerkung Button

6 Vgl.: Josef Scharbert, Einleitung in den Pentateuch, in: Josef Scharbert, Genesis 1-11 [= Neue Echter Bibel] (Würzburg 1983) 7. Zur Anmerkung Button

7 Vgl.: Alfons Deissler, Einleitung in das Alte Testament - Zusammenschrift entsprechend einer autorisierten Vorlesungsmitschrift des WS 1969/70 bzw. einer nicht autorisierten Mitschrift anhand von Bandaufnahmen des WS 1976/77 mit teilweisen Ergänzungen für das WS 1979/80 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.) 63. Zur Anmerkung Button

8 Vgl.: Alfons Deissler, Einleitung in das Alte Testament - Zusammenschrift entsprechend einer autorisierten Vorlesungsmitschrift des WS 1969/70 bzw. einer nicht autorisierten Mitschrift anhand von Bandaufnahmen des WS 1976/77 mit teilweisen Ergänzungen für das WS 1979/80 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.) 63. Zur Anmerkung Button

9 Vgl.: Julius Wellhausen, Die Komposition des Hexateuch und der historischen Bücher (1885, 1889); Prolegomena zur Geschichte Israels (1878; 6. Auflage 1927). Zur Anmerkung Button