Die Bibel

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Weiter-ButtonZurück-Button Einzelstämme und Zwölfstämmeverband ⋅1⋅

Aus dem Gesamtvorgang der Landnahme und aus dem, was wir bereits über die verschiedenen Zeitpunkte des Sesshaftwerdens einzelner Stammesgruppen gesagt haben, ist aber zu folgern, dass der Zwölfstämmeverband nicht gut in der Zeit vor dem Sesshaftwerden existiert haben kann. Israel als Zwölfstämmeverband ist eine Größe, die sich sicher erst nach der Landnahme konstituierte.

Ab wann können wir jetzt aber von einem "Zwölf-Stämme-Verband" sprechen, vom Volk Israel, so wie dieser Begriff in der Bibel dann gebraucht wird?

Gab es diesen Zwölf-Stämme-Verband überhaupt?

Handelt es sich bei der biblischen Konzeption eines Zwölferverbandes um eine Fiktion, um eine Theorie, eine Idealvorstellung? Oder liegen ihr tatsächlich reale Gegebenheiten zugrunde? Und wenn ja, aus welcher Zeit rührt dieser Zusammenschluss der Stämme?

1. Die Amphiktyonie-Hypothese

Martin Noth ging dieser Frage in seiner 1930 erschienenen Arbeit "Das System der zwölf Stämme Israels" nach. Er hat dabei eine interessante Hypothese aufgestellt, mit der wir uns auf jeden Fall ein wenig genauer auseinandersetzen müssen.

a. Westkleinasiastische, griechische und altitalisch-etruskische Sakralverbände

Er ging aus von einem Phänomen, das uns im westkleinasiatischen, griechischen und altitalisch-etruskischen Bereich im 8., 7. und 6. Jahrhundert v. Chr. begegnet. Hier fallen recht eigenartige Sakralverbände auf, griechische und altitalische Stämme, die sich jeweils zu einem nicht politisch sondern religiös motivierten Verband zusammengeschlossen haben.

Als man diese Verbände genauer untersuchte, fand man heraus, dass einige wesentliche Elemente immer wiederkehrten. Es gab zum Beispiel immer

  • ein Zentralheiligtum als Mittelpunkt dieses Sakralverbandes,
  • ein gemeinsames Sakralrecht, an das sich die Teilnehmer banden,
  • gemeinsame Feste, zu denen die Stämme in regelmäßigen Abständen zusammenkamen,
  • und gemeinsame Sakraltraditionen.

Dabei scheint auch die Sechs- oder Zwölfzahl der Stämme eine große Rolle gespielt zu haben, ja sie scheint sogar konstitutiv gewesen zu sein.

Sie war dadurch bedingt, dass die Mitglieder dieses Stämmeverbands in wechselndem Turnus für die Bedienung und Pflege des Zentralheiligtums zu sorgen hatten. Bei einem aus zwölf Stämmen bestehenden Verband traf dies jeden Monat abwechselnd einen anderen Stamm. Bei einem Sechserverband war ein Stamm für den Zeitraum von je zwei Monaten an der Reihe.

Die dadurch auftretende Regelmäßigkeit erlaubte es somit, den Festkalender mit den einzelnen diensttuenden Stämmen zu verknüpfen.

In der wissenschaftlichen Forschung belegte man das Phänomen solcher Sakralverbände mit dem Fachterminus "Amphiktyonie".

b. Begriffsbestimmung Amphiktyonie

Dieser Begriff "Amphiktyonie" kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie "Umwohnerschaft".

Mit ihm bezeichnet man nun einen solchen freiwilligen, unpolitischen Zusammenschluss von zwölf oder sechs Stämmen zu einem Sakralverband, wie er eben im westkleinasiatischen, griechischen und altitalisch-etruskischen Bereich belegt ist.

c. Das Amphiktyonie-Modell auf Israel übertragen

Das Modell einer griechischen Amphiktyonie diente Martin Noth nun als Analogie, um Aufschluss über das Wesen und die Grundkonzeption des altisraelitischen Stämmeverbandes zu gewinnen.

Außer der Zwölfzahl der Stämme fand er weitere Parallelen zwischen griechischer Amphiktyonie und altisraelitischem Stämmeverband.

  • Die Lade verstand er als Zentralheiligtum der israelitischen Amphiktyonie,
  • der zentrale Kultort als Standort der Lade habe sich - nach Martin Noths Darstellung - anfangs in Sichem (Jos 24) befunden und sei dann - entsprechend dem biblischen Bericht - nach Bet-El (Gen 20-21), Gilgal (Jos 4; 1 Sam 11,15) und Schilo (1 Sam 1-3; Jer 7) verlegt worden.
  • In den apodiktisch formulierten Rechtssätzen des Alten Testaments läge das amphiktyonische Recht vor
  • und in den Pentateuchtraditionen spiegelten sich die Sakralüberlieferungen der altisraelitischen Amphiktyonie wider.
  • Drei große Feste, zu denen die Stämme dreimal jährlich zusammenkamen, fand Martin Noth in Ex 23,14-17 aufgeführt:
    "Dreimal im Jahr sollst du mir ein Fest feiern.
    Das Fest der ungesäuerten Brote sollst du halten. Sieben Tage lang sollst du ungesäuerte Brote essen, wie ich dir zur Zeit des Monats Abib befohlen habe; denn in ihm bist du aus Ägypten ausgezogen. Man soll aber nicht mit leeren Händen vor meinem Angesicht erscheinen.
    Ferner das Fest der Ernte, der Erstlinge des Ertrags deiner Aussaat, mit der du das Feld bestellt hast,
    und das Fest der Lese am Ende des Jahres, wenn du deine Früchte vom Feld eingeholt hast.
    Dreimal im Jahr sollen alle deine männlichen Personen vor dem Herrn Jahwe erscheinen."
    (Ex 23,14-17)

Für Martin Noth waren diese drei großen Feste, zu denen Abgeordnete der Stämme Israels dreimal jährlich zusammengekommen seien, der Sitz im Leben zur Proklamation des amphiktyonischen Rechtes und zur Verkündigung der mit dem Pentateuch gegebenen Sakralüberlieferungen.

Einen Hinweis darauf, dass die Stämme Israels in einer Amphiktyonie zusammengewachsen waren, glaubte Martin Noth auch im Debora-Lied in Ri 5 zu finden. Hier war in einem vermutlich vorstaatlichen Text schließlich belegt, dass die Stämme gemeinsam in der Jesreelebene dem Feind entgegentraten. Für Martin Noth ein Hinweis darauf, dass ein Stammesverband bereits existierte.

Die altisraelitische Amphiktyonie sei um Jahwe, den Gott Israels, zentriert gewesen. Im Jahweglauben, in den vom Jahweglauben her geprägten Überlieferungen, die sich im Pentateuch niedergeschlagen haben, und im apodiktischen Recht sah Noth das unverwechselbare Proprium der altisraelitischen Amphiktyonie.

d. Für und Wider der Amphiktyonie-These

Die These Martin Noths hat selbstverständlich eine große wissenschaftliche Diskussion ausgelöst. Der Gedanke selbst klingt zunächst äußerst verlockend.

Die Amphiktyonie-These bietet schließlich die Möglichkeit, die mannigfaltigen Traditionen der Frühzeit Israels und die vielfältigen und disparaten Einzelerscheinungen der vorstaatlichen Zeit, die sonst ja beziehungslos nebeneinanderstehen, einem umgreifenden Ganzen sinnvoll einzuordnen. Hierin erwies sich die Evidenz dieser Hypothese. So ist es nicht verwunderlich, dass Martin Noths Gedanke rasch auf weitgehende Zustimmung stieß und lange Zeit auch das Feld der Forschung beherrschte.

In neuerer Zeit wurde die Amphiktyonie-These jedoch modifiziert (vor allem von R. Smend), angegriffen (S. Herrmann) und schließlich von Georg Fohrer radikal in Frage gestellt.

(1) Die Kritik S. Herrmanns

Gegen die Amphiktyonie-These wendet S. Herrmann ein, dass erst in der frühen Königszeit, also nach 1000 v. Chr. die Nord-, Mittel- und Südstämme zu einem Ganzen geworden seien. Erst ab 1000 v. Chr. kann man davon sprechen, dass die Stämme Israels geeint worden seien.

Auch wurden erst mit dem aus dieser Zeit stammenden ältesten Strang der Pentateuchüberlieferung (Jahwist) die einzelnen Stammestraditionen miteinander verbunden. Jetzt erst seien diese Traditionen gesamtisraelitisch geworden. Die Traditionen der nördlichen und der mittleren Stämme wurden nun erst miteinander verbunden.

In vorstaatlicher Zeit sei eine alle Stämme umfassende Amphiktyonie zudem nicht möglich gewesen. Denn die Sperrriegel der kanaanäischer Festungsstädte hätten die galiläischen Stämme von den mittelpalästinischen und die mittelpalästinischen von den südpalästinischen Stämmen isoliert.

Auch das Deboralied in Ri 5, eines der ältesten Textzeugnisse des Alten Testamentes, scheint nach S. Hermann die Amphiktyonie-These nicht zu stützen.

Das Deboralied nennt zehn Stämme Israels, die in der Jesreelebene einen entscheidenden Sieg über die kanaanäischen Städte errungen hatten. Für Martin Noth war diese Schlacht ein Hinweis darauf, dass Israel in der Amphiktyonie zusammengewachsen war und so geeint gegen die Kanaanäer vorgehen konnte.

Das Siegeslied der Debora in Ri 5 setze nach S. Herrmann die Einheit der Stämme jedoch nicht voraus. Es fordere sie vielmehr erst.

Die Schlacht in der Jesreelebene, mit ihrem Sieg über die kanaanäischen Städte, sei erst zu der eigentlichen Voraussetzung für die Kommunikation der nördlichen und der mittelpalästinischen Stämme geworden. Diese Schlacht wäre also erst die Ursache und Voraussetzung für das Zusammenwachsen gewesen und nicht eine zusammengewachsene Amphiktyonie Voraussetzung für die Schlacht in der Jesreelebene - wie Martin Noth annahm.

Nach S. Herrmann könne man daher nicht von einer israelitischen Amphiktyonie sprechen. Das Zwölfersystem der Stämme Israels sei eine nachträgliche Konstruktion, die erst aus der frühen Königszeit stamme. Vorher hätte es eine alle Stämme umfassende Größe schlicht und ergreifend nicht gegeben.

(2) Die Kritik Georg Fohrers

Georg Fohrer weitete diese Kritik sogar noch einmal aus.

  • Er vermisst im Alten Testament zuallererst einen Namen, eine Bezeichnung für diese Amphiktyonie.
  • Das AT kennt einzig und allein die Bezeichnung Israel als stämmeübergreifenden Namen. Israel enthält im Namen aber noch die Gottesbezeichnung "El", die auf den kanaanäischen Hochgott "El" hinweist und deutlicher Beleg dafür ist, dass die Israeliten in der Frühzeit "El"-Verehrer waren. Die von Martin Noth vermutete amphiktyonie-ähnliche Verbindung der Stämme scharte sich aber um ein Jahwe-Heiligtum, um die Bundeslade. Eine Jahwe-Amphiktyonie wäre aber sicher nicht mit dem Namen "Isra-El" bezeichnet worden.
  • Auch ist für Georg Fohrer die Analogie zu graeco-italischen Amphiktyonien nicht stichhaltig. Es erscheint ihm äußerst schwierig zu sein, eine Institution aus dem indo-germanischen Bereich einfach in den semitischen Bereich zu übertragen.
  • Genauso schwierig sei es, Einrichtungen aus dem Bereich seßhafter Völker mit denen nomadischer Völker oder Völker an der Schwelle zur Sesshaftwerdung zu vergleichen.
  • Die Zwölfzahl ⋅2⋅ der Stämme Israels ist für ihn auch noch kein Beweis für eine Amphiktyonie. Die Zwölfzahl als Grundzahl des Sexagesimalsystems soll - nach Georg Fohrer - einfach die angeführten Stämme als die Gesamtheit Israels charakterisieren.
  • Auch weist er ausdrücklich darauf hin, dass keinerlei gemeinsame Aktionen eines solchen Zwölferverbandes in vorstaatlicher Zeit belegbar seien.
  • Darüber hinaus habe es weder einen zentralen Kultort noch ein gemeinsames Zentralheiligtum gegeben. Georg Fohrer versuchte nachzuweisen, dass die Bundeslade ursprünglich lediglich dem Hause Josef zuzuordnen sei. Erst gegen Ende der vorstaatlichen Zeit sei sie vorübergehend zum Symbol eines zeitlich begrenzten antiphilisteischen Bündnisses mittelpalästinischer Stämme geworden.
    Sichem, Bet-El, Gilgal und Schilo waren, nach Georg Fohrer, auch nicht nacheinander amphiktyonischer Zentralkultort, sondern nebeneinander Lokalheiligtümer je eines Stammes. Die Möglichkeit, dass diese Kultorte gelegentlich von benachbarten Stämmen gemeinsam besucht wurden, lässt Georg Fohrer dann allerdings durchaus offen.

2. Stämmeübergreifende Größe "Israel" in vorstaatlicher Zeit?

Hat es in vorstaatlicher Zeit also eine stämmeübergreifende Größe "Israel", einen real funktionierenden, wie auch immer gearteten, Stämmeverband nicht gegeben?

Wir können auf die ausführliche Diskussion dieses Problemkreises hier unmöglich eingehen. Ich möchte lediglich einige Hinweise auf einen Lösungsversuch wiedergeben.

Hier sind die Verzeichnisse der israelitischen Stämme ein wichtiges Indiz. Martin Metzger bemerkt, dass diese Stämmeverzeichnisse in der Bibel, nicht einfach nur eine spätere Konstruktion sein können. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dass sie nicht mehr die Situation der frühen Königszeit widerspiegeln.

  • Ruben, Simeon und Levi spielen in der frühen Königszeit eine untergeordnete Rolle, obschon sie in den Verzeichnissen ganz oben rangieren.
  • In der Erzählung von der Geburt der Stammesahnherren sind die ganz im Norden ansässigen Stämme Issachar und Sebulon u. a. mit den Südstämmen Juda und Simeon zur Gruppe der Lea-Stämme zusammengeschlossen. Dies entspricht nicht der Stämme-Koalition, die wir aus der Zeit nach der Staatenbildung kennen. Wäre diese Genealogie also nachträglich konzipiert worden, hätte es doch nahegelegen, die Stämme Issachar und Sebulon - den bestehenden Verhältnissen entsprechend - den Stämmen Efraïm, Benjamin und Manasse zuzuordnen, mit ihnen bildeten sie zu dieser Zeit schließlich einen gemeinsamen Staat. Mit den anderen Stämmen in der Lea-Gruppe hatten sie zu dieser Zeit aber kaum etwas zu tun.

Deshalb liegt es nahe, in diesen Überlieferungen tatsächlich Spiegelbilder vorstaatlicher Gegebenheiten zu sehen. Und dementsprechend auch Erinnerungen an stammesübergreifende Verbindungen.

Martin Metzger geht nun davon aus, dass die in der Genesis als Söhne Leas genannten Stammväter die älteren, zuerst eingewanderten Stämme repräsentieren. Er hält dabei das von Georg Fohrer rekonstruierte 2. System der Stammesverbände für das ursprüngliche. Hier handelt es sich bei den Lea-Stämmen ja tatsächlich um sechs Stämme.

Daraus folgert er, dass diese zunächst eingewanderten Stämme möglicherweise tatsächlich so etwas wie einen Sechserverband bildeten.

Man muss nicht so weit gehen wie Martin Metzger. Ich möchte jetzt nicht unbedingt daran kleben, dass es tatsächlich so ein Sechserverband gewesen sein muss - obschon es für solche Verbände tatsächlich auch aus dem Umfeld Israels Parallelen gibt. ⋅3⋅ Ob es sich jetzt um fünf, sechs oder sieben Stämme handelt, dürfte relativ egal sein. Auf jeden Fall scheint es aber sinnvoll zu sein, davon auszugehen, dass diese zunächst eingewanderten Stämme einen Verband untereinander bildeten.

Dieser Stämmeverband dürfte sich dann auch mit dem Namen "Israel" in Beziehung gebracht haben. Das ist durchaus wahrscheinlich. Wir haben es bei den so zusammengeschlossenen Stämmen schließlich mit großer Wahrscheinlichkeit mit "El"-Verehrer zu tun.

Diese These wird durch eine Tatsache ganz entscheidend untermauert: Aus der Zeit gegen Ende des 13. Jahrhunderts v. Chr. gibt es nämlich einen außerbiblischen Beleg für das Vorhandensein eines "Israels" in Palästina. Die Ägypter sind gegen Ende eben des 13. Jahrhunderts v. Chr. in Mittelpalästina eingefallen. Auf einer Siegesstele rühmt sich der Pharao Mernptah oder Merneptah:

"Kanaan ist geplündert, mit allem Bösen überschüttet, weggeführt wird Askalon, genommen Geser, Jenoam ist zunichte gemacht, Israel ist verwüstet und hat keinen Samen mehr." ⋅4⋅

Diese Inschrift ist das einzige uns bekannte außerbiblische Schriftdokument aus dem 2. Jahrtausend v. Chr., in dem der Name Israel erwähnt wird. Und diese Erwähnung könnte sich durchaus auf den von Martin Metzger rekonstruierten Sechserverband oder zumindest einen ähnlich gearteten Stämmeverband "Israel" beziehen.

Die sogenannten Rahel-Stämme - ähnliches gilt dann für die von Georg Fohrer angenommenen Silpa- und Bilha-Stämme - wären dann später eingewandert. Sie wären dann in diesen bereits bestehenden Verband eingegliedert worden.

Die Rahel-Stämme, oder ein Teil von ihnen, dürften dabei die Gottesbezeichnung Jahwe mitgebracht haben. Sie scheinen bereits vor ihrer Sesshaftwerdung Jahwe-Verehrer gewesen zu sein und scheinen die Jahwe-Verehrung wie auch die Exodusüberlierfung an die bis dato "El" verehrenden Gruppen weitergegeben zu haben.

Dass die im Land bereits ansässigen Stämme diesen "neuen" Gott so ohne weiteres als den ihren annahmen, könnte durch ein in die damalige Zeit verweisendes historisches Ereignis begünstigt worden sein.

Kurz vor Einwanderung der Rahel-Stämme scheint der oben angeführte Kriegszug der Ägypter in Mittelpalästina, der auf der Mernephta-Stele erwähnt ist, seinen Platz zu haben. In seiner Folge dürften Teile der Lea-Stämme, Simeon und Levi, aus ihren Wohnsitzen in Mittelpalästina verdrängt worden sein.

In dieser Situation dürfte sich die Botschaft von Jahwe, die die Rahel-Stämme mitbrachten, die Botschaft vom Gott, der aus der Knechtschaft der Ägypter befreite und der eine Gruppe von Halbnomaden vor den Nachstellungen einer ägyptischen Streitwagenmacht errettete, deutlichen Widerhall bei den Lea-Stämmen gefunden haben.

Vielleicht ist dies der Hintergrund, auf dem die Durchsetzung der Jahwe-Verehrung in Israel zu denken ist.

3. Zusammenfassung und Versuch einer Beurteilung der Amphiktyonie-These

Wenn wir abschließend noch einmal auf die umstrittene Amphiktyonie-These zurückblicken, dann kann man mit Einschränkungen sagen, dass bei einem Vergleich zwischen der israelitischen Stämmegemeinschaft und den amphiktyonischen Bünden im altgriechisch-etruskischen Bereich große Unterschiede aber durchaus auch Gemeinsamkeiten zu verzeichnen sind.

a. Gemeinsamkeiten zwischen Amphiktyonie und altisraelitischem Stämmeverband

Als gemeinsame Elemente zwischen der Amphiktyonie und dem altisraelitischen Stämmeverband sind

  • die durchaus nicht unmögliche Zwölf- bzw. Sechszahl der beteiligten Stämme,
  • der sakrale, unpolitische Charakter des Zusammenschlusses,
  • die gemeinsame Bindung an eine Gottheit als konstitutives Element der Stämmegemeinschaft
  • sowie die Kultgemeinschaft an Heiligtümern zu nennen.

b. Unterschiede zwischen Amphiktyonie und altisraelitischem Stämmeverband

Während jedoch die Stämme griechischer Amphiktyonien in regelmäßigem Turnus an einem gemeinsamen Zentralheiligtum zu gemeinsamen Festen des Gesamtverbandes zusammenkamen, ist es nicht mit Sicherheit nachweisbar, dass es in Israel in vorstaatlicher Zeit einen Zentralkultort mit einem allen Stämmen gemeinsamen Zentralheiligtum, an dem alle Stämme zu gemeinsamen Festen zusammenkamen, gab.

Martin Noths These, dass die Kultstätten von Sichem, Gilgal und Schilo nacheinander als zentraler Kultort der Amphiktyonie fungierten, gründete auf der Überlieferung, dass diese Orte zeitweilig Standort der Bundeslade waren. Die These ging zudem von der Voraussetzung aus, dass mit der Lade das Zentralheiligtum des Stämmeverbandes gegeben war.

Es kann jedoch nicht mit Sicherheit nachgewiesen werden, dass die Lade ein solches Zentralheiligtum gewesen ist. Nach Martin Metzger liegt die Annahme näher, dass die Lade ursprünglich lediglich bei den mittelpalästinischen Rahel-Stämmen beheimatet war. Sie dürften ja die Träger der Sinai-Tradition gewesen sein. Darum kann auch die Existenz eines zentralen, allen Stämmen gemeinsamen Kultortes nicht mit Sicherheit angenommen werden. Erst recht nicht für die Zeit, bevor die Rahel-Stämme sesshaft wurden.

Der alte Festkalender in Ex 23,14-17, den wir oben zitierten, lässt auch nichts davon erkennen, dass alle Stämme bei den Wallfahrtsfesten an einem zentralen Kultort zusammenkamen. Die Forderung, dass jeder männliche Israelit "dreimal im Jahr das Angesicht Jahwes sehen" solle, kann man ja auch - wiederum mit Martin Metzger - durchaus als Wallfahrten zu Lokalheiligtümern deuten.

Erst im deuteronomischen Festkalender (Dtn 16) - also ab dem 7. Jahrhundert v. Chr. - wird die Zentralisation aller Feste an nur einem Heiligtum gefordert (Dtn 16,2. 11. 15. 16).

Die Unterschiede zwischen einer Amphiktyonie im klassischen Sinne und dem israelitischen Stämmeverband sind also gravierend.

c. Fazit

Da aber manche Gemeinsamkeit zwischen altisraelitischer Stämmegemeinschaft und altgriechisch-etruskischer Amphiktyonien bestehen, bietet die Amphiktyonie nach wie vor, wenn auch in gewissen Grenzen, eine brauchbare Analogie zum Verständnis der altisraelitischen Stämmegemeinschaft.

Weil aber die Unterschiede zwischen griechisch-etruskischen Amphiktyonien und der Gemeinschaft der Stämme Israels sowie die zeitliche und räumliche Distanz zwischen beiden Größen so beträchtlich sind, scheint man gut beraten zu sein, die Bezeichnung "Amphiktyonie" auf den griechisch-altitalischen Bereich zu beschränken und für Israel in vorstaatlicher Zeit die neutralere Bezeichnung Stämmeverband, Sakralverband oder sakraler Stämmeverband zu gebrauchen. ⋅5⋅

Auf keinen Fall ist für die Frühzeit Israels mit einer straff durchorganisierten, zentral geleiteten Institution zu rechnen.

Andererseits müssen die Beziehungen der Stämme zueinander über nur gelegentliche, mehr oder weniger zufällige Kontakte hinausgegangen sein. Die Beziehungen untereinander müssen - so etwa Martin Metzger - so intensiv gewesen sein, dass es zu einem gesamtisraelitischen Bewusstsein kam, dass man sich über den Stammesverband hinaus zu einer größeren Gemeinschaft, die den Namen Israel trug, verbunden wusste und dass es zu gemeinsamer Tradtionsbildung kommen konnte. Ereignisse, die nur einem Teil der Stämme widerfahren waren, wurden dabei auf die Gesamtheit übertragen und Überlieferungen verschiedener Gruppen miteinander verbunden.

Gerade dieses Zusammenwachsen der Überlieferungen, das wir im Nachhinein noch erkennen können, muss schließlich einem Zusammenwachsen der Stämme entsprochen haben. So spiegelt sich im Überlieferungsprozess der israelitischen Tradition sicher der Vorgang der Gemeinschaftsbildung wider. Man kann daher nachträglich aus dem Überlieferungsbestand durchaus auch Rückschlüsse auf mannigfache Beziehungen der Stämme untereinander ziehen.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 39-48. Zur Anmerkung Button

2 "... Diese Zahl [die Zwölfzahl] oder die Sechszahl findet sich auch in den Stammesgenealogien anderer Völker. Man wird daher annehmen müssen, dass ihr nicht wirkliche Gegebenheiten zugrunde liegen, sondern dass andere Gründe für ihre Wahl maßgebend gewesen sind..."
(Georg Fohrer, Geschichte Israels (Heidelberg 1979) 46.) Zur Anmerkung Button

3 Solche Sechserverbände sind im näheren Umkreis Israels z. B. bei den Churritern (Gen 36,20-28) belegt. Im weiteren Umkreis böte sich dann, in jüngerer Zeit die - seit Martin Noth bekannte - Parallele im griechisch-etruskischen Bereich an, etwa in der dort belegten Sakralverbindung einer Amphiktyonie.
(Vgl.: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 41-42 Zur Anmerkung Button

4 TGI 2, S. 39-40, zitiert nach: Martin Metzger, Grundriß der Geschichte Israels (Neukirchen 5. Auflage 1979) 41-42. Zur Anmerkung Button

5 Zur Verwendung des Begriffs Amphiktyonie im Blick auf Israel urteilt Georg Fohrer "... Jedoch wiegen die Gegengründe schwerer und schließen die Annahme von Amphiktyonien aus, so daß es wenig sinnvoll ist den Ausdruck "Amphiktyonie", weil er sich weitgehend eingebürgert habe, weiterhin zu verwenden, ihn jedoch mit einem Gehalt zu füllen, der mit dem eigentümlichen Sinn des Ausdrucks nichts mehr gemein hat."
(Georg Fohrer, Geschichte Israels (Heidelberg 1979) 76.) Zur Anmerkung Button