Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Die endgültige Fixierung des jüdischen Kanons ⋅1⋅

1. "Canon Esdrinus" bzw. "Esra-Kanon"

Die spätere Tradition hat seine Festlegung auf den Priester Esra, der Anfang des 4. Jahrhunderts v. Chr. lebte, zurückgeführt. Daher nennt man diesen jüdischen Bibelkanon "Canon Esdrinus" oder auch "Esra-Kanon".

Natürlich ist diese Zurückführung auf Esra eine nachträgliche Zuschreibung. Esra kann den Kanon natürlich noch nicht festgelegt haben.

  • Eine ganze Reihe von Büchern waren zu seiner Zeit noch gar nicht geschrieben. So stammt der zweite Teil des Buches Daniel erst aus der Zeit um 165 v. Chr.
  • Aus den Qumranfunden wissen wir ebenfalls, dass selbst zur Zeit Jesu noch kein fixer Bibelkanon bestand.

Wann aber hat sich dann dieser sogenannte "Esra-Kanon" endgültig herauskristallisiert?

2. Wann wurde der "Canon-Esdrinus" festgelegt?

a. Der "terminus ante quem"

Wir können auf jeden Fall sagen, dass die oben genannten 24 bzw. - je nach Zählung - 39 Bücher des jüdischen Kanons spätestens um 100 n. Chr. als kanonisch angesehen wurden. Vor allem die Angaben im Werk des Flavius Josephus und im 4. Esra-Buch, die beide aus der ersten nachchristlichen Zeit stammen, lassen diesen Schluss zu.

b. Der "terminus post quem" - die בֵּית דִּין ["bet-din"]

See Gennesaret mit einem Boot

Der See Gennesaret mit einem Boot.

Foto-Button© Katholisches Bibelwerk Linz, Kapuzinerstr. 84, A-4020 Linz

Die endgültige Fixierung hat dabei in der Zeit nach der Tempelzerstörung im Jahre 70 n. Chr. stattgefunden. Verantwortlich dafür war eine palästinisch-jüdische Behörde, die man die בֵּית דִּין ["bet-din"] nannte, was soviel bedeutet wie "Haus des Gerichtes".

Diese Behörde war zuerst in Jabne bzw. Jamnia zuhause und später dann in Tiberias am See Genesareth. Es war zuerst eine religiöse Institution, ein Lehrhaus, das der gemäßigte Vertreter des Pharisäerflügels Johanan Ben Zakkai um 70 n. Chr. mit Erlaubnis der römischen Besatzungsmacht gegründet hat.

In der בֵּית דִּין ["bet-din"] wurden anstehende Lehrentscheidungen getroffen und die Toralehrer ausgebildet. So wird verständlich, dass in diesem Kreis dann auch der Kanon endgültig fixiert wurde.

Auch die Vokalisation des hebräischen Konsonantentextes wurde in dieser Zeit am See Tiberias vorgenommen.

3. Warum kam es zur Fixierung des Kanons?

Warum aber kam es ausgerechnet zu dieser Zeit zur Fixierung des jüdischen Kanons? Dafür gibt es einen ganz einfachen Grund.

Das jüdische Gemeinwesen, die Hierokratie, also die Herrschaft des Hohenpriesters, und auch der jüdische Tempel waren in den Jahren 70 bis 73 n. Chr. unter Titus endgültig untergegangen.

Nach dem Verlust des Tempels und des Opferkultes musste die Schrift - als einzige noch existierende Grundlage der jüdischen Religion und des jüdischen Volkes - gerettet werden.

Vor allem die Abgrenzung gegen eine ganze Reihe von apokalyptischen Schriften, die sich als heilig ausgaben und durch ihre Endzeiterwartung zum Ausbruch des tragischen Aufstandes gegen die Römer beigetragen hatten, tat Not. ⋅2⋅

Damit hat die Abgrenzung des offiziellen, jüdischen Kanons einen apologetisch-polemischen Charakter. Sicher spielte teilweise auch die Abgrenzung gegen die Christen eine nicht unwesentliche Rolle. Die Christen beriefen sich ja mittlerweile auf die Septuaginta und zählten daher noch eine Reihe weiterer Schriften zur ihren heiligen Büchern.

4. Welche Kriterien legte man zugrunde?

Insgesamt lassen sich nun vier Kriterien ausmachen, die eine Rolle bei der Festlegung des Kanons gespielt haben.

  • Die Schriften mussten eine volle Übereinstimmung mit dem Mosaischen Gesetz aufweisen. Die Tora war also so etwas wie ein Kanon im Kanon.
  • Sie mussten von hohem Alter sein. Man ging davon aus, dass die jeweilige Schrift bis spätestens zur Zeit des Artaxerxes also bis zur Esra-Periode entstanden sein musste. Natürlich stimmt diese zeitliche Einordnung für die ein oder andere Schrift so nicht.
  • Alle Schriften mussten in Palästina entstanden sein
  • und sie mussten in hebräischer Sprache verfasst worden sein.

5. Umstrittene Bücher

Von daher war klar, dass die kanonische Geltung einzelner Bücher durch diese Kriterien lange Zeit umstritten war. Hier sind insbesondere die Bücher

  • Hoheslied,
  • Ester,
  • Sprüche,
  • Ezechiel
  • und Rut

zu nennen.

In einem Mischnatraktat heißt es am Ende:

"Alle Heiligen Schriften beflecken die Hände [...] Rabi Jose sagt, Kohelet beflecke die Hände nicht. Und Hoheslied ist strittig." ⋅3⋅

Und im babylonischen Talmud kann man lesen:

"Es suchten die Weisen das Buch Kohelet zu verbergen, weil seine Worte einander widersprechen." ⋅4⋅

Und weiter:

"... und auch das Buch Proverbien wollte man verbergen, weil seine Worte sich widersprechen." ⋅5⋅

Mit der Thronrat-Vision des Propheten Ezechiel hatte man wohl deshalb Schwierigkeiten, weil man sie als Widerspruch gegen die Tora empfand. Gott durfte schließlich nicht geschaut werden.

All diese Probleme scheinen allerdings vor allem Skrupel gewisser rabbinischer Gelehrtenkreise gewesen zu sein. Das Ansehen dieser Bücher im Volk scheinen sie nicht beeinträchtigt zu haben. So haben sich auch diese Schriften im jüdischen Kanon behaupten können.

6. Der Esra-Kanon und das Christentum bzw. die Septuaginta

Die Entscheidung des rabbinischen Judentums in Jabne / Jamnia, die den "Canon Esdrinus" fixierte, betraf nun natürlich in erster Linie das Judentum. Die junge christliche Kirche blieb davon weitgehend unberührt.

Im Christentum verwendete man die Bibel in der Regel nicht in ihrer hebräischen Ausgabe. Da viele Christen griechisch sprachen, wurde in christlichen Kreisen vor allem die griechische Übersetzung des Alten Testamentes, die sogenannte Septuaginta benutzt.

Auch das Neue Testament zitiert die Schrift meist auf der Basis der Septuaginta. ⋅6⋅

Hinzu kommt, dass aufgrund der zunehmenden Distanzierung der Christen vom Judentum, die Lehrentscheidung der בֵּית דִּין ["bet-din"] im christlichen Raum kaum als bindend angesehen wurde.

So verwendeten die Christen auch weiterhin die Septuaginta. Sie enthält aber eine Reihe von Schriften, die nicht im "Canon Esdrinus" vorhanden sind. Es sind dies Schriften, die nur noch in ihrer griechischen Übersetzung erhalten oder gar erst auf griechisch abgefasst wurden.

Damit stehen wir nun aber vor dem Problem, dass zwei verschiedene Kanones des alten Testamentes existieren. Der hebräische "Canon Esdrinus" und der umfangreichere, griechische Kanon der Septuaginta.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Lothar Ruppert, Einleitung in das Alte Testament (Teil I) - autorisierte Vorlesungsmitschrift (WS 1984/85) 23-30. Zur Anmerkung Button

2 "Zur Festlegung der Traditionsbasis und zur Abgrenzung gegenüber apokalyptischen Ansprüchen wurde nach und nach der Kanon heiliger Schriften fixiert."
(Johann Maier, Geschichte der jüdischen Religion (Berlin 1972) 95.) Zur Anmerkung Button

3 Mischna-Traktat "jadain" III/5, zitiert nach: Johann Goettsberger, Einleitung in das Alte Testament (Freiburg 1928) 360. Zur Anmerkung Button

4 Babylonische Talmud, Traktat Samuhedin, zitiert nach: Johann Goettsberger, Einleitung in das Alte Testament (Freiburg 1928) 360. Zur Anmerkung Button

5 Babylonischer Talmud, Traktat Sabbath folio 30b zitiert nach: Johann Goettsberger, Einleitung in das Alte Testament (Freiburg 1928) 361. Zur Anmerkung Button

6 Das Neue Testamet zitiert keine der deuterokanonischen Schriften, aber es zitiert auch nicht alle protokanonischen Schriften. So werden das Hohe Lied, Kohelet, Esra und Nehemia nirgendwo zitiert.
(Vgl.: Lothar Ruppert, Einleitung in das Alte Testament (Teil I) - autorisierte Vorlesungsmitschrift (WS 1984/85) 29.) Zur Anmerkung Button