Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


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Mehr als dies sonst zu einer Zeit üblich war, sind die Arbeiten des Meister Mathis im unmittelbar konkreten Sinne seine eigene Leistung ⋅1⋅. Allem Anschein nach hat er keinen ständigen Werkstattbetrieb mit Schülern und Gehilfen betrieben - und wenn dies doch der Fall gewesen sein sollte, dann gab es solch einen Betrieb sicher nur zeitweilig oder projektbezogen.

"Ohne die Last einer Werkstattverantwortung, Hausbesitz und doch wohl auch unverheiratet, scheint er, relativ beweglich, seine großen Aufträge mitunter an Ort und Stelle ausgeführt zu haben. Wenigstens ist dies für Isenheim und die Frankfurter Arbeiten anzunehmen." ⋅2⋅

Gemälde

Jörg Ratgeb, Flügel
des Herrenberger Altares.

Lizenz: Jörg Ratgeb,
Herrenberger Altar, rechter Außenflügel,
Szene innen: Auferstehung Christi, 1519,
Staatsgalerie Stuttgart,
CC BY-SA 4.0

Auch hat es anscheinend keine unmittelbare "Grünewald"-Schule, im Sinne einer Dürer- oder Cranach-Schule, gegeben. Sichere Schul- oder Werkstattarbeiten sind bislang keine bekannt geworden ⋅3⋅. Nichtsdestoweniger haben die Bilder des Meister Mathis ihren Eindruck bei den zeitgenössischen Künstlern hinterlassen, was sich - nach Heinrich Geissler - sporadisch beim jüngeren Holbein, durchgehender bei Jörg Ratgeb, dem Frankfurter Maler Martin Caldenbach (1480-1518) und noch weiteren feststellen lasse.

Diese Einflüsse stehen letztlich aber in keinem Verhältnis zur Bedeutung, die Mathis Gothart Nithart in unseren Tagen gewonnen hat.

"Es ist ein merkwürdiges Phänomen, daß ein Maler, der zu Lebzeiten nicht besonders berühmt und bald nach seinem Tod fast völlig vergessen war, der nie druckgraphische Arbeiten, weder Kupferstiche noch Holzschnitte geschaffen hat, die sein Andenken hätten wachhalten können, innerhalb von zwei bis drei Jahrzehnten, 400 Jahre nach seinem Tod, zu einem derartigen Ruhm gelangen konnte." ⋅4⋅

Hinzu kommt, dass er diesem Ruhm eigentlich nur einem einzigen Werk, dem Altar der Antoniter-Präzeptorei in Isenheim, verdankt.

Das Altarwerk im Schatten der großen Politik

Heinrich Geissler ⋅5⋅ erinnert nicht zu unrecht daran, dass bei der Wiederentdeckung des Altarwerkes, die im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahm, einige Momente eine Rolle spielten, die zunächst einmal nichts mit dem Werk selbst zu tun haben.

Nachdem das Elsaß infolge des Deutschfranzösisches Krieges 1870/71 dem Deutschen Reichsgebiet zugeschlagen worden war, rückten die Kunstwerke dieses Landstriches im Rahmen der neu entfachten nationalen Welle verstärkt in das Blickfeld. Dazu gehörte selbstverständlich mit an vorderster Stelle der Isenheimer Altar, der - nachdem das Unterlindenmuseum in Colmar am 3. April 1853 seine Toren für die Öffentlichkeit geöffnet hatte - der Allgemeinheit wieder zugänglich war.

Nicht minder einschneidend war die Zeit des Ersten Weltkrieges. Die Altartafeln wurden nach München ausgelagert und dort längere Zeit in der Alten Pinakothek ausgestellt. Nicht zuletzt dadurch wurden sie einem breiten Kunstpublikum nahegebracht.

Als der Altar nach Abschluss des Versailler Vertrages nach Colmar zurückgeführt wurde, förderte dies

".. seinen Rang als eine Art nationales Heiligtum ..." ⋅6⋅

nur noch einmal. Aber diese politischen Umstände erklären nur bedingt die Rezeptions-Renaissance des Meister Mathis zu Beginn gerade des 20. Jahrhunderts.

Der Nerv eines ganzen Zeitalters

Es war im Jahr 1911, als Heinrich Alfred Schmid die erste bahnbrechende Studie über Grünewald veröffentlichte. Im selben Jahr schuf Wassily Kandinsky das erste abstrakte Gemälde der Kunstgeschichte. Beide Ereignisse lassen erahnen, dass hier zwei Welten zusammenstießen, die wie füreinander geschaffen schienen. Es war die gewagte Farbgebung und expressive Darstellung zum Beispiel des menschlichen Leidens bei der Kreuzigungsdarstellung des geschlossenen Altares, die den Nerv der Zeit traf.

Der Dresdner Maler Hans Grundig (1901-1958) beschreibt die Faszination, die Meister Mathis zwischen den Weltkriegen auf viele Maler ausübte:

"Bosch und der große Matthias Grünewald zogen uns in ihren Bann. Hier fanden wir Parallelen zu unserer merkwürdigen apokalyptischen Zeit." ⋅7⋅

In den Bildern - gerade etwa der Kreuzigungsszene des Isenheimer Altares - sahen viele regelrechte

"Gleichnisse der geschundenen Menschheit" ⋅8⋅.

Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Künstlergeneration ist Otto Dix . Er bezeichnete sich selbst als Apokalyptiker in der Grünewaldschen Tradition, ja als Grünewalds "Schüler" und erhoffte sich von dessen "leidenschafticher Wahrheit" vor Beginn des Ersten Weltkriegs gleichsam eine Erneuerung im Geiste ⋅9⋅.

Anhaltende Bedeutung

Diese Begeisterung für Meister Mathis und sein Hauptwerk, den Isenheimer Altar, hält bis in unsere Tage an. Vom 30. November 2002 bis 28. Februar 2003 ging eine Ausstellung in der Städtischen Galerie Jesuitenkirche Aschaffenburg diesem Phänomen unter der Überschrift "Grünewald in der Moderne" nach.

Von Werken aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, wie Erich Heckels Holzschnitt "Zwei Männer am Tisch" aus dem Jahre 1913, Heinrich Nauens Pieta aus dem gleichen Jahr, und Otto Dix' 1948 entstandene "Kreuzigung", reichte der Bogen bis in die Gegenwart. Unter anderem durch Jean Tinquelys "Cenodoxus" von 1981 und die 1984/89 entstandene "Übermalung nach Grünewald Christus" Arnulf Rainers sollten den Einfluss des Renaissancemalers Mathis Gothart Nithart auf das gegenwärtige Kunstschaffen deutlich gemacht werden.

Auf dieser Ausstellung war auch der Leipziger Maler Michael Triegel vertreten. Der 1968 in Erfurt geborene Künstler ist in seiner bildnerischen Arbeit allegorisch bis mythologisch geprägt. Werke wie sein "Anthropische Prinzip" zeigen, dass die Auseinandersetzung mit Grünewald auch Künstler der gegenwärtigen Generation gefangen nimmt.

Der Isenheimer Altar auf der Bühne des Musiktheaters

Ganz eigene Werke der Grünewald-Rezeption des 20. Jahrhunderts sind die in den Jahren 1933 bis 1935 entstandene Oper Paul Hindemiths "Mathis der Maler" sowie die gleichnamige Sinfonie. Beide Kompositionen versuchen das Leben Mathis Gothart Nitharts, seine Tätigkeit im Dienst des erzbischöflichen Hofes in Mainz und die Entstehung seines Werkes auf dem Hintergrund der Themen des Isenheimer Altares zu beleuchten.

In einem gewaltigen und klangprächtigen Musikdrama spannt Hindemiths Oper einen Bogen von der Zurückgezogenheit des Künstlers in einem Antoniterkloster am Main über den deutschen Bauernkrieg bis zur Resignation, in der Hindemiths "Mathis der Maler" seine Künstlerkarriere beendet.

Gemeinhin geht man dabei davon aus, dass Paul Hindemith, der auch für das Libretto seiner Oper verantwortlich zeichnet, die Entstehung der Isenheimer Altartafeln - entgegen der historischen Wirklichkeit - in die Zeit nach dem Bauernkrieg verlegt habe. Das Ringen um die Verantwortung des Künstlers, seine Zerrissenheit zwischen seinem Auftraggeber und der traditionellen kirchlichen Wirklichkeit auf der einen Seite und dem Neuaufbruch in der reformatorischen Bewegung auf der anderen, die Auseinandersetzung zwischen Herren und Bauern und die Rolle des Künstlers in dieser durch Krieg gebeutelten Gesellschaft im Umbruch wären dann gleichsam die Voraussetzungen für die Entstehung der Altartafeln und die Gemälde selbst das Ergebnis dieses inneren Ringens.

Szenenfoto

Szenenfoto einer Aufführung der Oper Mathis der Maler
am Badischen Staatstheater in Karlsruhe -
Sechstes Bild ("Die Versuchung des Antonius").
In der Titelrolle: Thomas J. Mayer -
hier mit dem Badischen Staatsopernchor.

Foto: Foto: Jacqueline Krause-Burberg -
Mit freundlicher Genehmigung des
Badischen Staatstheaters, Karlsruhe

Diese Deutung ist allerdings nicht zwingend. Im Zusammenhang mit der ausgesprochen beachtenswerten Produktion der Oper am Badischen Staatstheater in Karlsruhe mit Premiere am 17. März 2007 weist die Karlsruher Dramaturgin Katrin Lorbeer auf eine Reihe von Details hin, die durchaus den Schluss zulassen, dass die Oper nicht die Entstehung des Isenheimer Altares schildere,

"... sondern den Blick eines Malers auf die Zeitläufe, die er nur vor dem Hintergrund seiner Kunst, seines bereits vollendeten Werks, interpretieren kann..." ⋅10⋅

Selbst was die Wirkungsgeschichte des Altares und seines Schöpfers angeht, gilt demnach offenbar, was August L. Mayer 1919 in seiner kleinen Darstellung mit dem Titel "Grünewald - Der Romantiker des Schmerzes" formuliert hat:

"Seltsam der Mensch, rätselhaft seine Lebensgeschichte, merkwürdig das Schicksal seiner Bilder, sonderbar die Geschichte seines Ruhms, einzigartig das Wesen seiner Kunst." ⋅11⋅

Weiterführende Informationen zu folgenden Themen:
Otto Dix und der Isenheimer Altar - Paul Hindemiths Oper "Mathis der Maler".

 

Zurück-Button Anmerkungen

1 Vgl.: Heinrich Geissler, Meister Mathis - Leben und Werk, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 35. Zur Anmerkung Button

2 Heinrich Geissler, Meister Mathis - Leben und Werk, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 35. Zur Anmerkung Button

3 Vgl.: Heinrich Geissler, Meister Mathis - Leben und Werk, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 35. Zur Anmerkung Button

4 Heinrich Geissler, Meister Mathis - Leben und Werk, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 15. Zur Anmerkung Button

5 Vgl.: Heinrich Geissler, Meister Mathis - Leben und Werk, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 15. Zur Anmerkung Button

6 Heinrich Geissler, Meister Mathis - Leben und Werk, in: Max Seidel, Mathis Gothart Nithart Grünewald, Der Isenheimer Altar (Stuttgart 1973) 15. Zur Anmerkung Button

7 Hans Grundig, zitiert in: Volker Schuck, Verstörende Mystik - Grünewald und die moderne Malerei, in: Der Hausarzt, (München, Heft 20 / 2002) 96. Zur Anmerkung Button

8 Hans Grundig, zitiert in: Volker Schuck, Verstörende Mystik - Grünewald und die moderne Malerei, in: Der Hausarzt, (München, Heft 20 / 2002) 96. Zur Anmerkung Button

9 Vgl.: Volker Schuck, Verstörende Mystik - Grünewald und die moderne Malerei, in: Der Hausarzt, (München, Heft 20 / 2002) 96. Zur Anmerkung Button

10 Katrin Lorbeer, "Mathis der Maler" als persönliches Bekenntnis, historisches Drama und politisches Lehrstück, in: Badisches Staatstheater Karlsruhe (Hrsg.), Mathis der Maler, Programmheft des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, Spielzeit 2006/2007 (Karlsruhe 2006) 42. Zur Anmerkung Button

11 August L. Mayer, Grünewald - Der Romantiker des Schmerzes, München 1919, zitiert nach: Badisches Staatstheater Karlsruhe (Hrsg.), Mathis der Maler, Programmheft des Badischen Staatstheaters Karlsruhe, Spielzeit 2006/2007 (Karlsruhe 2006) 42. Zur Anmerkung Button