Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Ein Altar höher als das Münster?

Detail des Breisacher Altares

Die Spitze des Breisacher Altares.

Foto: Jörg Sieger, August 1987

Die mittlere Fiale des Gesprenges des Breisacher Altares ist nach vorne geboten. Sie krümmt sich in einem sogenannten Frauenschuh, der zu allerlei Spekulationen Anlass gegeben hat.

Zunächst einmal ist zu sagen, dass solch eine gebogene Fiale eine Spielerei der Gotik ist. Es kommt vor, dass Fialen zweigeteilt und nach beiden Seiten geneigt sind oder - wie es auch beim Sakramentshäuschen der St. Lorenz Kirche in Nürnberg, das Adam Kraft zwischen 1496 und 1510 geschaffen hat, der Fall ist - nach vorne gebogen werden.

Da der Altar bei aufgerichteter Fiale 1,39 Meter höher als die Kirche selbst ist, hat sich in Breisach eine ganz eigene Legende zur Entstehung des Altares entwickelt.

Ich lasse diese Legende hier in der Fassung, wie Gebhard Klein sie in seinem Büchlein über das Münster überliefert, im Wortlaut folgen:

"In der letzten Hälfte des 15. Jahrhunderts lebten Schreinermeister Liefrink, seine Frau und sein Sohn Hans in bescheidenen Verhältnissen in einem einfachen Bürgerhaus auf dem Berg. Als der Junge noch nicht vierzehn Jahre alt war, starb sein Vater. Im prunkvollen Nachbarhaus in der Nähe des Radbrunnens wohnte der reiche Kaufmann und Ratsherr Ruffacher mit seiner Tochter Maria. Ihre Mutter war schon früh gestorben. Fast täglich trafen sich beide Kinder beim Spielen auf der Straße und gewannen einander lieb. Gerne verbrachte der aufgeweckte Junge seine freie Zeit in der Werkstatt des Vaters und hantierte mit Säge, Hobel und Schnitzmesser. Ein Verwandter entdeckte das Schnitztalent des Jungen und sorgte dafür, daß er nach Nürnberg zu einem tüchtigen Meister in die Lehre kam. Dort trat er auch mit dem berühmten Maler Albrecht Dürer in Verbindung. Nach seinen Lehrjahren arbeitete er bei den hervorragendsten Künstlern in vielen Städten Deutschlands.

Doch bald zog es ihn zurück in seine Heimatstadt, und glücklich kam er in seinem Vaterhaus an. Er begann, sich eine Werkstatt für Schnitzkunst einzurichten, und gewann die Liebe seiner früheren Spielgefährtin Maria. Als er aber bei ihrem Vater um die Hand des Mädchens anhielt, wurde er kurz und entschieden abgewiesen: Er werde niemals seine Tochter einem Manne geben, der zu den sogenannten fahrenden Leuten gehöre und daher nicht imstande sei, eine Familie zu ernähren. So blieb dem jungen Künstler nichts anderes übrig, als wieder zum Wanderstab zu greifen. Herzlich nahm er Abschied von Maria; im Hausgarten Ruffachers schworen sich die Liebenden unverbrüchliche Treue und pflanzten zur Erinnerung an diese Stunde einen Rosenstock in einer Mauernische.

Jahre vergingen. Wohlstand herrschte damals in Breisach, und der Magistrat trug sich mit dem Gedanken, das Münster mit einem Hochaltar zu schmücken, wie er weit und breit nicht zu finden war. Landauf und landab suchte man nach einem Künstler, der etwas Großes zu entwerfen und auszuführen imstande sei. Schließlich wandte man sich nach Nürnberg an Albrecht Dürer und bat ihn um Unterstützung. Die Antwort kam schon nach kurzer Zeit: "Der Löbliche Rat zu Breisach hat nicht nötig, sich an auswärtige Meister zu wenden. Die Stadt hat den größten Meister in ihren Mauern selbst, Hans Liefrink, den ich als Freund und Schüler hochschätze. Ruft ihn zurück, und er wird Euch ein Kunstwerk liefern, das der Bürgerschaft und ihrem Münster durch alle Jahrhunderte hindurch zum Ruhm gereichen wird." Der Magistrat erteilte 1523 Hans Liefrink den ehrenvollen Auftrag.

Nun hielt Liefrink den Zeitpunkt für gekommen, abermals bei Rat Ruffacher um die Hand seiner Tochter anzuhalten. Um dem Freier nicht nochmals eine abschlägige Antwort geben zu müssen, griff er zu einer List und sagte: "Ich stelle Dir eine Bedingung: Schnitz mir einen Altar, der höher ist als die Kirche selbst, dann sollst Du meine Tochter haben." Diese Forderung erschien Ruffacher unerfüllbar. Doch Liebe überwindet alles. Als Liefrink seine Geliebte im Hausgarten ihres Vaters traf und ihr von der Schwierigkeit seines Auftrages erzählte, sahen sie, wie der Rosenstock, den sie einst als Unterpfand ihrer Treue gepflanzt hatten, in die Höhe gewachsen war. Der Schlußbogen der Mauernische hatte aber ein weiteres Wachsen nach oben verhindert, so daß sich die Zweige nach vorn und abwärts gebogen haben. Wie eine Offenbarung überkam es den Künstler: Das war die Lösung, jetzt wußte er, wie er die Spitze des Altars zu gestalten habe: Sie mußte vornüber im sogenannten Frauenschuh umgebogen sein.

Von nun an arbeitete der junge Künstler von morgens früh bis abends spät, ohne Rast und Ruh. Rasch schritt die Arbeit voran. Weich und anmutig entwickelten sich die lebensvollen Figuren aus der toten Materie. Der Himmelskönigin gab er die Züge seiner Braut. Nach drei Jahren im Sommer 1526 war das Werk vollendet. Am 15. August, am Tage Mariae Himmelfahrt, verkündeten die Klänge der großen Münsterglocke, daß der Altar aufgestellt sei. Die hohe Geistlichkeit, der Magistrat der Stadt und viel Volk hatten sich eingefunden, um das Werk zu bewundern. Gerade als die Morgensonne ihre Strahlen in den Chor sandte, stand das Meisterwerk in seiner ganzen Schönheit vor aller Augen. Breisach hatte nicht nur ein unübertreffliches Kunstwerk, sondern auch ein Wahrzeichen für alle Zeiten erhalten: einen Altar, höher als die Kirche.

Als das Hochamt vorüber war, reichten Bürgermeister und Ratsherren Hans Liefrink die Hand, sagten Dank und beglückwünschten ihn. Auch Rat Ruffacher trat auf ihn zu, schloß den ergriffenen Künstler vor aller Augen in seine Arme und küßte ihn. Drei Wochen später wurden Meister Hans Liefrink und Maria Ruffacher an den Stufen dieses Altars als erstes Paar getraut. Es war eine Hochzeit, wie Breisach noch keine gesehen hatte. Das Rosenbäumchen im Hausgarten wurde von beiden getreulich gepflegt, und es dankte ihnen Jahr für Jahr mit vielen, herrlichen Blüten." ⋅1⋅

Zurück-Button Anmerkung

1 Zitiert nach: Gebhard Klein, Das Breisacher Sankt Stephansmünster (Breisach, 3. Auflage 2002) 56-58. Zur Anmerkung Button