Der Isenheimer Altar

und seine Botschaft


Zurück-Button Franz Christian Lerses "Anzeige der Gemählde und Statuen ..."

In der "Bibliothéque Municipale Colmar" [Ms 761-1(2)] wird eine Handschrift aus dem 18. Jahrhundert aufbewahrt. Sie besteht aus sieben Foliobögen, die nur durch ein leichtes Seidenband verbunden sind. Einer der Bögen dient als Umschlag und trägt den Titel.

Die Schrift stammt vermutlich von Franz Christian Lerse, der seit dem 8. Juni 1770 an der Theologischen Fakultät in Straßburg immatrikuliert und Jugendfreunde Johann Wolfgang von Goethes war. Auf den 24 Textseiten beschreibt der Autor den Isenheimer Altar, den er für ein Werk Albrecht Dürers hält. Unabhängig von allen Verkürzungen, manchen Unrichtigkeiten und Fehlinterpretationen handelt es sich hier um ein gewichtiges und bedeutendes Dokument. Es ist die einzig erhaltene Beschreibung, die - unmittelbar vor der Zerstörung des Altarwerkes im Zusammenhang der Französischen Revolution - einen  Eindruck vom originalen Zustand des Werkes in der Isenheimer Antoniterkirche vermittelt.

Veröffentlicht wurde die Beschreibung des Altares durch Lerse von Heinrich Alfred Schmid (Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald. Zweiter Teil (Textband); Straßburg 1911, 329-338), in etwas abweichender und gekürzter Form von Walter Karl Zülch (Der historische Grünewald. Mathis Gothard-Neithard, München 1939, 386-390) und von Reiner Marquard (Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996), 121-139). Bei Marquard finden sich zusätzlich eine Reihe von Anmerkungen und Hinweisen zum Text.

Obschon der erhaltene Text den Eindruck einer Reinschrift macht, sind einige Stellen unterstrichen und

"... dafür am Rande anderem genauere Varianten beigesetzt". ⋅1⋅

Schmid fügt diese Varianten, die er

"endgiltige Form" ⋅2⋅

nennt, in Klammern hinzu. Die Neuveröffentlichung durch Marquard folgt ihm darin. Der Text wird hier in Anlehnung an Reiner Marquard wiedergegeben:

Anzeige der Gemählde und Statuen der ehemahligen Antonier Kirche zu Isenheim im Obern Elsaß

Als die Mahlerey mit dem XIII.ten Jahrhundert anfieng ihr Haupt in Italien wieder empor zuheben, mußte sie sich durch eine neue Kindheit zur Reife durcharbeiten.

Noch lagen die Trümmer der römischen Größe und die wenigen Überreste der griechischen Kunst unter dem Schutt der Barbarey vergraben. Das Gefühl für Schönheit war, so wie aller Adel der Seele, erstorben, und die Natur lag in einem Todesschlaf, in dessen Zückungen das unseelige Menschen Geschlecht nur morden und beten konnte. Sogar die Kleidung der damaligen Menschen, die um die Arbeit des Schöpfers zu verderben, nicht unsinniger hätte können erdacht werden, zeugt von dieser allgemeinen Zerrüttung und die Künstler, deren sorgloser Fuß über die herrlichsten Werke einer bessern Vorwelt hinstrauchelte, weideten ihre Augen an den abenteuerlichen Gestalten ihrer Mitbrüder, und brachten Ungeheuer hervor, die in Vergleich mit griechischen und römischen Formen ein Mittelding zwischen Affen und Menschen zu seyn scheinen. An Ausdruck der Leidenschaften und der Bewegungen der Seele dachten die damaligen Mahler und selbst die Giottos und andere Verbesserer der Kunst, eben so wenig, als an Wahl aus ihrer Natur. Sie gaben ihren Figuren beschriebene Rollen in den Mund oder in die Hände, und waren nicht wenig auf eine so sinnreiche Erfindung stolz, die sie in den Stand sezte dem Zuschauer zu sagen, was sie durch Bewegung und Beziehung der verschiedenen Glieder nicht ausdrüken konnten. Es brauchte mehr als ein Jahrhundert, ehe man sich aus den Säcken, den Salzburger Hosen und den engen Camisölern herausdenken konnte, und von dem was sie verbargen deutliche Begriffe bekam. Wenn ja das nackende mußte gemahlt werden, wie in Christi Lebens und Leidens Geschichte so waren die Formen der Glieder wie unter der Kleidung, nur daß die Knöpfe und Zierrathen wegblieben und das Ganze mit einer Art fleischfarbe bestrichen wurde. In den Werken Martin Schöns und aller Künstler seiner Zeit findet man auch nicht die mindeste Spur von irgend einer Kenntniß der Musklen, der Gelenke und Knochen, ihrer Lagen, Verbindungen und ihres Gebrauchs. Unter verschiedenen, oft sehr gut und wahrgezeichneten, Henkers-Knechten erblickt man fast immer eine jämmerliche Christus Gestalt, die einem ausgestopften Modell ähnlich sieht, an dem die unbarmherzigen Peiniger sich im Geißlen zu üben scheinen, und das ihre Streiche eben so wenig fühlt als die Zuschauer. Das Studium des Nackenden war auch um so viel unbekannter und schwerer, da es, bey dem Mangel an guten Mustern und an Kenntniß der Anticken, in diesen Zeiten des Aberglaubens und der rohen Unschuld für eine unverzeihliche Sünde gehalten wurde einem Künstler zum Modell zu dienen. Endlich kam der unerwünschte Zeitpunkt, da Gefühl und Menschen Sinn wieder obsiegten und das einzige XV.te Jahrhundert brachte in den verschiedenen Theilen von Europa mehr grose Männer aller Art und besonders Mahler hervor als der ganze Zeitraum vom VII. bis auf das XIV. Jahrhundert nur halb erträgliche aufzuweisen hat. Thomaso l Massaccio brachte es in einer kurzen Lebenszeit von 26. Jahren weiter als alle seine Vorgänger, er studirte die Natur und sie lehrte ihn richtige Verhältniße, Kenntniß der Verkürzungen und eine vernünftige Art Bekleidungen, die wenigstens Menschen Glieder unter sich vermuthen lassen. Leonardo da Vinci gieng noch weiter, er begnügte sich nicht die Natur, wie sie sich ihm in einzelnen unvollkommenen Gegenständen darstellte, nachzuahmen. Er wolte wählen, und sein Genie, geleitet von einer grosen und gründlichen Gelehrsamkeit brachte ihn ohne Kenntniß der Anticken auf die Spur der Griechen, in der Richtigkeit der Zeichnung sowohl, als in dem Ausdruk der Leidenschaften, der Bewegungen und der geheimsten Gedanken des menschlichen Herzens. Michel Angelo und besonders Raphael fanden endlich in den Anticken Muster der wahren und schönen Natur und die Vollkommenheit, die sie suchten. Mißverstandenes Studium des Anticken hat schon manchen irre geführt und an den Marmor angefeßelt. Raphael wußte allein das Studium der Natur geschickt damit zu verbinden, und wenn er in den griechischen und römischen Statuen richtige und schöne Verhältniße, einfache und edle Stellungen und Kopfwendungen fand, so gewährte ihm die Natur den noch weit höhern Theil der Kunst jedem Gegenstand den Charackter der Wahrheit, und jedem einzelnen Glied, in Übereinstimmung mit dem Ganzen, grad den Ausdruk zugeben den jede Bewegung der Seele erforderte, und der beynahe immer die vorhergehende und nachfolgende Lage derselben vermuthen läßt. Er lernte aus den Anticken die Natur wählen und bahnte den Mahlern einen Weg, auf dem sie nicht irre gehen konnten, den aber nur wenig glückliche Köpfe gewählt haben. Es war aber Italien nicht allein, das in diesen glüklichen Zeiten auf Wiederauflebung des guten und schönen grose Mahler hervorbrachte. Mit weit mindern Hülfsmittlen und mit weit grösern Schwierigkeiten, ohne Muster und ohne Aufmunterung stunden in Teutschland Männer auf, die den besten Italienern können an die Seite gesezt werden, und wenn sie es in der Vollkommenheit der Kunst nicht eben so weit gebracht haben; so ist es mehr den Umständen und der grösern Barbarey ihrer Nation, als ihnen selbst zuzuschreiben. Selbst zu Raphaels Zeiten war das Verdienst Albrecht Dürers in Italien so bekannt und so entschieden, daß man sich über die Unwissenheit der Teutschen, die diesen grosen Mann nicht genug schäzten ärgerte. Die Italiänischen Kupferstecher stachen seine Arbeit nach, und Raphael konnte das Portrait dieses vortreflichen Künstlers, das er ihm blos schwarz und weis getuscht aber äusserst kräftig und lebendig gemahlt, nebst verschiedenen seiner Kupferstiche geschikt hatte, nicht genug bewundern. Er bewahrte es unter seinen Kostbarsten Seltenheiten und hielt sich für verbunden ihm sein eigenes Bildnis zum Gegengeschenk zu übersenden. Vasari, selbst "ein groser Mahler und noch ein gröserer Kenner["] thut das ofenherzige Geständnis, daß wann dieses seltene und allgemeine Genie Toscana zum Vaterland gehabt, und die herrlichen Wercke der Kunst die man zu Rom sieht, hätte studieren können, er der beste Mahler in ganz Italien würde geworden seyn, so wie er der gröste und berühmteste war den je in Teutschland und die Niederlande hervor gebracht haben. Eine in prophetischem Geist ausgesprochene Wahrheit, dann noch immer steht der grose Mann zwischen seinen sit venia dicto mittelmäsigen Nachfolgern und elenden Vorgängern in der Mitte allein.

Wenn wir die Gemählde Martin Schöns, von denen man in dem Münster zu Colmar, in dem dasigen Dominicaner Closter und in andern umliegenden Kirchen noch zimmlich vollständige Sammlungen sieht mit Albrecht Dürers seinen, der sein Zeitgenossen war und sein Schüler hat werden sollen, vergleicht, so scheint es kaum möglich wie ein Mensch, blos durch sein Genie, auf einmal einen solchen Riesen Schritt habe thun können. Martin Schöns Gesichter sind zwar öfters gut charackterisirt und voll Leben, seine Stellungen bisweilen natürlich und den handlenden Personen angemessen und sogar seine Compositionen manchmal geistreich und verständig; aber seine Zeichnung des Bekleideten und noch mehr des Nakenden ist im elendesten Geschmack, seine Gewänder sind mit der grösten Verschwendung des Stoffes voll unzählbar kleiner obgleich nicht allezeit schlecht geordneter Falten; Im Ausdruck erstreckte sich seine Kunst nicht weiter als auf Gesichter der niederträchtigsten Classe von Henckersknechten, die mit Wollust martern, und auf Priester Gestalten, auf deren wohlgemästeten Bäuchen und Wangen, Eigendünkel, Bosheit, Heucheley und Verfolgungssucht ruht; von Verkürzungen wußte er ganz und gar nichts, von der Perspecktiv noch weniger und seine Landschaften sind eckelhaft und unerträglich. Albrecht Dürers Zeichnung im Gegentheil ist richtig und der Natur getreu obgleich ohne Wahl, ohne Kenntnis der Anticken und noch immer etwas in Gottischem Geschmack; seine Gewänder sind vortreflich und dienten verschiedenen großen Italiänischen Mahlern Andrea des Sarto und Guiacomio Pontormi zum Muster; seine Compositionen sind gros, reich und voll Feuer; sein Ausdruck immer wahr und passend öfters auch edel, seine Landschaften sind meisterhaft und sein Colorit wäre ganz Natur wenn seine Umrisse weniger hart und Licht und Schatten besser vertheilt wäre. Die Reglen der Perspecktiv waren ihm vollkommen bekannt, ob er sie gleich in seinen Wercken nicht immer ausübte und die Luft Perspecktiv ganz versäumte. Nirgends läßt sich die Vergleichung zwischen diesem großen Künstler und seinen Vorgängern besser anstellen, als in der Antonier Kirche zu Isenheim, welche viele Vaterländische Alterthümer merckwürdig machen und in der man nebst verschiedenen der besten (guten) Arbeiten Martin Schöns ein Altar-Gemählde antrift, das die gemeine Sage Albrecht Dürern zuschreibt, das seiner in jeder Rücksicht würdig und wenigstens vollkommen in seinem Geschmacke (seiner Manier) ist. Zwar findet man auf demselben weder seinen Nahmen noch sein Wappen oder eine Jahrzahl. Auf der hintern Seite des Altars stehen blos folgende altteutsche Verse.

Dise Kunst kumdt von Gottes Gunst
wanns Gott nit guntt so ists umsunst
Ein jeder dises Werck Gott loben sot
Dann diese Kunst kumt von Gott.
1578; Hagerich von Chur:

Wiewohl d'Kunst Gaaben Gottes sindt
ist Unverstandt jer gröster Feind
Darumb wer solche nit verstät
allhie nichts zu urtheilen hat.
Abell Stymmer.

Aber der ganz modernen Buchstaben nicht zu gedenken, womit diese Verse geschrieben sind giebt es noch stärckere Gründe, um zu beweisen, daß Keiner von den unterschriebenen Mahlern die Altar Gemählde kan verfertigt haben. Der Name Hagerich von Chur ist in der Geschichte der Kunst ganz unbekanndt, und es ist unmöglich (kaum glaublich) daß man von einem Manne, der wie Füeßlin sich von diesen Gemählden ausdrückt eines der schönsten und vollkommensten Werke des XVI.ten Jahrhunderts verfertiget hat nicht die mindeste Nachricht haben, auch sonst nichts von seinen Arbeiten kennen solte. Die grösten und besten Köpfe gelangen erst nach vielen mislungenen und halbgerathenen Versuchen zur Vollkommenheit; mit einem einzigen Meisterstuk hat noch keiner in der Mahlerey angefangen und zugleich aufgehört; und wenn dieses Wunder ja einmal geschehen wäre so müßte der Künstler gewis Epoche in der Geschichte gemacht haben. Abel Stymmer von Schaffhausen ist bekanndt sowie seine drey Brüder, von denen besonders der älteste Tobias Stymmer ein vortreflicher Mahler und Kupferstecher gewesen; Abel aber mahlte nur auf Glas und hat vermuthlich seinen Namen blos deswegen hinter den Altar geschrieben, weil einige der meisterhaften Glasgemahlde dieser Kirche von seiner Arbeit sind. Die Gründe warum ich diese beyden Mahler nicht für die Verfertiger der Altar Gemählde halten kan, werden in meinen Augen unwiedersprechlich, da (erhalten in meinen Augen dadurch neues Gewicht, daß) der Erfolg meiner bisherigen Untersuchungen und Nachforschungen so unbefriedigend er auch ist, mich immer mehr auf Albrecht Dürern oder doch wenigstens auf seine Zeiten hinweiset. Die Bildhauer Arbeit womit die Stüle der Chorherren geziert sind, ist gänzlich in dem nämlichen Geschmack der Zeichnung und der Bekleidung wie das Gemählde, und einige Figuren derselben sind sogar den Statuen, die sich in dem inneren Theile des Altars befinden, vollkommen ähnlich. Zu dem siehet man auf dem Eingang der Chorstüle die Jahrzahl 1493. um welche Zeit Dürer schon als Mahler, Bildhauer und Kupferstecher sehr berühmt war. Diese Aehnlichkeit des Geschmacks in der Zeichnung der Gemählde und der Bildhauer Arbeit, bestärkt mich also ohnerachtet der Verschiedenheit der Jahrzahl um soviel mehr in der Meynung, daß beydes von dem nämlichen Meister sey, da es erwiesen (mehr als wahrscheinlich) ist, daß Abel Stymmer die Glas Gemählde verfertigt und wahrscheinlich, daß der ganz unbekannte Hagerich von Chur ihm in dieser Arbeit geholfen habe. Ob aber Albrecht Dürer dieser Meister seye, kan und will ich nicht entscheiden; so sehr ich auch davon überzeugt seyn mag. Soviel ist wenigstens gewiß, daß besonders das äußere Altar-Gemählde in Erfindung, Zeichnung und in allem, was einen Künstler caracterisiren kan, in Dürers Geschmak ist; daß man über einem andern Gemählde auf der innern Seite des ersten unter den Zierrathen eine offene Thür sieht, deren sich, wie ich mich erinnere, dieser Künstler als ein redendes Zeichen bedient, und daß endlich die allgemeine Sage, seit mehr als zwey Jahrhunderten, ihm diese merkwürdige Seltenheiten der Isenheimer Kirche zuschreibt. In jedem Fall bleibt den Gemählden doch immer ihr innerer Werth und mir ein wahres Vergnügen bey jedesmaliger Betrachtung derselben gewis; Noch immer erinnere ich mich der lebhaften Freude, die mir ihr erster Anblick gewährt hat und ich erneuere das Andenken daran so gerne, daß ich es wage eine Beschreibung der verschiedenen Gemählde (Stücke) dieses Altars zu liefern. So unvollkommen sie auch seyn wird und wie alle Beschreibung dieser Art seyn muß, so wird sie doch wenigstens hinlänglich seyn einigen Begrif von der Schönheit und dem Werth eines Werkes (einer Arbeit) zugeben, das weder nach Verdienst gekannt noch geschäzt wird. In der Kirche sind verschiedene Gemählde Martin Schöns, die mir als ich sie zum erstenmal sah um soviel merkwürdiger waren, da ich ohne mich nach dem Chor umzusehen die Gemählde Albrecht Dürers, von denen ich schon viel gehört hatte, unter ihnen suchte. So schön aber einige derselben sind und so vortreflich und bewundernswürdig mir besonders für die damaligen Zeiten Zeichnung und Colirit an einem Christus Kind schienen, so konnte ich ihnen doch in der Folge, da das Chor geöfnet wurde und ich den Hoch-Altar einmal gesehen hatte, nur noch flüchtige Blicke schenken. Ueber diesem Hoch-Altar sind zwey doppelte Thüren eine hinter der andern, die auf beyden Seiten gemahlt sind und sechs Gemählde enthalten, weil auf der aussern Seite der verschlossenen Flügel nur ein Stuck ist. Zu beyden Seiten des Altars gehen noch zwey bevestigte Flügel heraus, mit denen also diese kleine Gallerie aus acht Gemählden besteht, zu denen man noch an Bildhauer Arbeit die hinter den Flügeln in dem innern des Altars sich befindende drey Statuen in Lebensgrösse, verschiedene in halb Lebensgrösse und dreyzehn in halben Figuren rechnen muß. Die Gemählde auf den geschlossenen Flügeln haben etwa 8 bis 9 Fuß in der Höhe und ohngefähr eben soviel in die Breite, die auf der innern Seite der geöffneten Flügel haben die nämliche Höhe und die Hälfte der Breite.

I.tes Gemälde auf den geschlossenen außern Flügeln

Christus Tod am Creuz, unten an demselben auf der rechten Seite des Gemählds die Mutter Gottes, Johannes und Maria Magdalena, auf der linken Seite Johannes der Täufer und ein Opferlamm mit dem Kelch und Fahnen. Die Figuren in Lebensgrösse obgleich ohne proportion unter einander. Die Zusammensezung dieses Gemähldes ist neu, einfach und erhaben, die Stärke und Wahrheit im Ausdruck des Ganzen sowohl, als der einzelnen Theile so trefend, daß man es ohne die innigste Rührung und Theilnehmung nicht betrachten kan. Der Mahler hat den Augenblick gewählt, da Christus sein Haupt neigte und verschied. Dieser Augenblick des Hinscheidens ist nicht nur in der ganzen Christus Figur, sondern auch hauptsächlich in der Wirckung, die die traurige Begebenheit auf die dabeystehende Mutter und Freunde thut, sichtbar. Christus hängt am Creuze mit ganz niedergesenktem Haupte, welches die Zeichnung des obern Cörpers und der Arme um so viel schwerer aber auch um so viel schöner macht da die ein wenig zu dünnen Arme ausgenommen alles und besonders der Ausdruck der Musklen und Sennen vortreflich wohl gerathen ist. An den geschlossenen Augen sieht man daß sie der Schmerz noch vor dem Tode erlöschen machte; das ganze Gesicht ist edel selbst bei den sichtbaren Wirckungen nie gefühlter Leiden. In dem Mund und in den Fingerspizen ist ein Zug, der allein den Mahler verewigen würde wenn auch sonsten nichts von dem Gemählde übrig geblieben wäre; der Sterbende öfnet in der Todes Angst den schon halbwelcken Mund nach Erholung, das lezte Streben der sinkenden Natur verursacht Zückungen die sich bis in die äußersten Fingerspizen verbreiten - er stirbt, und die Finger bleiben (selbst im Tode) wie in Zückungen gekrümmt und der Mund, wie schwer und ängstlich athmend, halb geöfnet. Der übrige Cörper ist gut und richtig gezeichnet, nur daß die Beine etwas zu dick und die Füße zu plump sind ein Fehler in den diejenigen sehr leicht verfallen, die (die Künstler der damaligen Zeit um so viel eher verfielen da sie) die Natur ohne Wahl und ohne Kenntniß der Anticken studirten. Das Colorit ist durch aus gut und (nur sind die) die von der Geisselung verursachte Wunden sind in der möglichsten (mit einer bis zum Eckel wahren) Mannigfaltigkeit theils noch blutend, theils schon halb geheilt theils nur geschwollen bis zum Entsezen wahr gemahlt, und sogar das Holz am Creuz scheint wahres Holz zu seyn. Unten am Creuze kniet Maria Magdalena die Hände ringend im äussersten Ausdruck des Schmerzes. Unter einem durchsichtigen Schleyer der ihr das halbe Gesicht bedeckt sieht man ihre rothen verweinten Augen starr und verzweifelnd auf Christum gerichtet. Das unordentliche und gut drappirte Gewand, die zerstreuten Haare und die heftige Bewegung in den Armen würde diese Figur vortreflich machen, wenn sie nicht in proportion (Verhältniß), mit den übrigen etwas zu klein wäre. Auf der nämlichen Seite, aber etwas weiter vom Creuze entfernt, stehen Maria und Johannes die herrlichste Gruppe in Zeichnung und Ausdruck die man nur sehen kan. Es scheint als ob jemand von den Beystehenden ausgerufen hätte: Nun ist er Tod! Die liebende Mutter unterliegt der Gewisheit des schon lange befürchteten Augenblicks und sinkt ohnmächtig in die Arme Johannis zurük. Sie sinkt so schnell, so bewußtlos, so tod dahin, daß man bey jedem Blick auf das Gemählde sie glaubt fallen zusehen, und dem betäubten Jünger Christi kaum Kräfte genug zutraut sie aufzuhalten. Johannes beschäftigt sich ganz mit ihr, dieser neue Zufall ruft ihn von dem geliebten Meister ab, und verbreitet über sein Gesicht einen Ausdruk des Schrekens, der dennoch auf seine vorhergehende Empfindungen schliesen läßt. Ich habe schon mehr Gemählde gesehen in denen Johannes die niedersinkende Maria unterstützt, immer blikt er, selbst bey Rubens und anderen grosen Mahlern, auf Christum, aber weit wahrer und natürlicher scheint es mir daß ihn unser Künstler bey einem neuen und plözlichen Fall, des vorigen Schmerzes, wenigstens auf einen Augenblick vergessen macht. Gerne mögte ich die Zeichnung an seinen Schultern und Armen Tadlen wenn nicht die vortrefliche Figur die sie umschlingen und ihr selbst in der Todesblässe vollkommen schönes Gesicht alle meine Blicke auf sich heftete, und mir nicht sogar den Fehler des meisterhaft gemahlten, aber weisen Oberkleids der Mutter Gottes, das so wie die ganze Gruppe die Hauptfigur verdrängt, verbärge. Auf der linken Seite des Gemähldes steht Johannes der Täufer, ein ofenes Buch in der einen Hand mit der andern auf Christum deutend; unter dem ausgestrekten Arm stehen die Worte: illum cresscere oportet, me autem minui. Johannes der Täufer nimmt auf der linken Seite Plaz ein den der Liebling Christi und die Mutter Gottes auf der rechten einnehmen, und das Opferlamm steht unten am Creuz der Maria Magdalena gegen über. Beyde allegorische Figuren sind gewis nicht überflüßig; sie deuten auf eine geschickte weise das Geheimnis der Erlösung an und erhalten das Gemählde in dem vollkommensten Gleichgewicht. Die beyden aussern Flügel auf denen die Creuzigung ist, werden in der Mitte grad wo sich ein Arm Christi an den Cörper anschließt, geöfnet und entdecken zu rechten und linken die auf der andern Seite desselben sich befindenden Gemählde, und zu gleicherzeit die beyden innern Flügel.

I.tes Hinter Gemählde der außern Flügel auf der rechten Seite

Die Verkündigung Maria. Dieses Gemählde ist in Geschmack, Erfindung und Zeichnung weit unter dem vorigen. Der Engel, dessen ganze Gestalt sehr materiel aussieht, und dessen schweres zu boden ziehendes Gewand, das über der Erde schweben das der Mahler hat anzeigen wollen, unmöglich macht, streckt mit einer unbedeutenden Bewegung Arm und Hand gegen die Heil. Jungfrau aus die statt des reinen unschuldigen Erstaunens seinen Gruß mit einer Mine des Unwillens und des Schreckens, die bis zur Grimasse steigt, empfängt. Das hochrothe in dem Gesicht und in den Haaren des Engels, so wie in den Gewändern beyder Figuren, so gut übrigens der Jungfrau ihres drappirt ist thut eben nicht die besten Wirckung. Übrigens ist dieses Stück äußerst fein und fleisig gemahlt, und was in den Figuren an Wahrheit des Ausdrucks vermißt wird, findet man in einem so viel höhern Grad in der Architektur des Zimmers in einigen Geräthschaften und Büchern von denen besonders ein aufgeschlagenes neues Testament bis zur vollkommensten Täuschung wahr gemahlt ist.

Das II.te Gemählde auf der Linken Seite: Die Auferstehung Christi

Christus schwingt sich leicht triumphirend aus dem Grabe gen Himmel, der obere Theil des Cörpers ist in dem lichtesten Glanze seiner Verherrlichung, ganz mit dem Licht vereinigt und nur noch in den äußersten und feinsten Umrissen sichtbar. Nur Schade daß dieser Glanz zu Circkelförmig und der untere Cörper, besonders die Knie sehr unrichtig gezeichnet sind. Von den Soldaten die am Grabe niederstürzen sind die beyden Vordersten in Zeichnung und Colorit ausnehmend schön und wahr, in einiger Entfernung sieht man einen dritten, der aber ohne die mindeste degradation der Tinten gegen alle Regien der Luft Perspecktiv gemahlt ist und in Vergleich mit den andern einem Zwerg und nicht einer durch die ferne verkleinerten Figur ähnlich sieht. Hätte der Mahler das Helldunckle gekannt und seinem Lichte grösere Massen von Schatten entgegen gesezt, so würde dieses Gemählde eine um so viel auser ordentlichere Wirckung thun, da eine glückliche Erfindung und erhabene Zusammensezung es auch ohne diesen Vorzug schon bewundernswürdig machen.

Äußeres Gemählde auf den inneren geschlossenen Flügeln

Die Jungfrau Maria sizt mit dem Jesus Kind in einer Landschaft die etwas noth gelitten aber noch schöne Theile und wohlgewählte Lagen zeigt. Mit dem Ausdruck der zärtlichsten Liebe blickt die Mutter auf das Kind herab das in jeder Rücksicht meisterhaft gemahlt ist. Sein Fleisch ist wahres Fleisch, seine Bewegung wahres Leben. Gerne vergißt man den verzeichneten Hals und Schulter der Mutter bey ihrem im grösten Geschmacke drappirten Gewand, und bey dem herrlichen Gedanken, den Kopf des Kindes ohne ihm einen Schein zu geben so glänzend zu machen, daß er wie ein leuchtender Körper alles, was um ihn ist und besonders die Fingerspizen der Mutter auf das künstlichste erhellt und ganz durchsichtig macht. Über der Jungfrau, sieht man, in der grösten Entfernung hoch in den Wolcken, Gott den Vatter mit dem ganzen Himmelsheere. Gegen über wird ihr wie in einem Gesicht die künftige Verehrung und Herrlichkeit die sie zu gewarten hat, gezeigt. In einem reich geschmükten Saal von sehr schöner Architektur (so genanter gothischer Bauart) stimmen die Himmelsbewohner, mit allen musicalischen Instrumenten begleitete, Lobgesänge zu Ehren der Heiligen Jungfrau an, die in verschiedenen Gestalten angebetet und verehrt wird. Einige gute Beleuchtungen, edle Engelsgestalten und die geistige Gesichtsmäßige Behandlung des ganzen, halten für die Rosenfarbichte, abscheulich verzeichnete, Baßgeiger mit Engelsflügeln schadlos. Die Wiege und ein Kübel mit nasser Wasche zu den Füsen der Jungfrau sind ganz Natur und würdens noch mehr seyn, wann Licht und Schatten in größeren Massen und besser vertheilt wären.

I.tes Hinter Gemählde der Innern Flügel auf der Linken Seite

Die Versuchung des Heil. Antonius. Schaaren weis stürmen die Teufel von allen Seiten auf den armen Heiligen zu, den einige derselben auf dem Boden liegend herumzerren. Die lebhafte Einbildungskraft des Mahlers zeigt sich in der manchfaltigsten Erfindung der theils grotesken, theils scheußlichen Teufels-Gestalten von denen verschiedene um den quaalvollen Zustand der bösen Geister anzuzeigen, ganz mit Geschwüren übersäet sind, andere aber, mitten in der Beschäftigung den Heiligen zu ängstigen von den schrecklichsten bis zum Abscheu wahr ausgedrukten, Schmerzen, überfallen werden. Der sehr fein gemahlte Kopf des Heiligen ist etwas zu klein und ohne Ausdruck. Haar und Bart aber und besonders das Gewand vortreflich. Einige alte halb zerfallene Gebäude in der Ferne auf denen noch unzählige Teufel herumschwärmen, schicken sich sehr gut zu dieser Scene. Alle Gemählde sind zwar sehr gut erhalten, aber dieses ist noch so frisch und die Farben so lebhaft als wenn sie so eben wären aufgetragen worden.

II.tes Hinter Gemählde der Innern Flügel auf der rechten Seite

Der Heil: Antonius mit dem H. Paulus dem Einsiedler in der Wüsten. In einer wohlgewählten und meisterhaft nach der Natur colorirten Landschaft, der zwey gegen einander überstehende bemooste Felsen, zwischen denen durch man die entferntere Lagen sieht, und einige mit Moos und andern Kräutern bewachsene, halb entblätterte Bäume das vollkommene Ansehen einer Wüste (darunter: tiefen Einsamkeit aber keiner Wüste) geben, sizen die Ehrwürdigen Greise halb nackend und blos mit Schilf bekleider an dem Rand einer Quelle. Ihre Gesichter drücken Ernst und stilles Bewußt seyn der besonderen Gnade Gottes aus, und Sachen von der grösten Wichtigkeit scheinen der Gegenstand ihrer Unterredung zu seyn. Um die Quelle sind verschiedene, nach der Natur gemahlte, Pflanzen und Blumen, die so wie alles übrige bis in das geringste détail ein wässerichtes Erdreich anzeigen. Die Greise sind bis auf die Haare an den Armen und Beinen äußerst fein und wahr gemahlt aber in einem etwas gothischen Geschmack der Zeichnung. Der Rabe der das Brod bringt ist abscheulich, desto schöner aber einige in der Entfernung weidende Hirsche. Nach der Creuzigung ist dieses Gemählde meiner Einsicht nach wegen der vortreflichen ganz in dem titianisch. Geschmack gemahlten Landschaft, das schönste und merkwürdigste.

I.ter Bevestigter Flügel auf der rechten Seite des Altars

Der Märtyrer Tod des Heil: Sebastians in Lebensgrösse. In einem verschlossenen Ort steht der Heil: an einer Säule angebunden mit verschiedenen Pfeilen durchschossen. Ein Engel, den man in der Ferne durch ein offenes Fenster sieht eilt in vollem Flug mit der Märtyrer Crone auf ihn zu. Der ganze Cörper ist äusserst fleisig und wahr gemahlt, Haar und Bart aber, sowie die ganze Ausführung des Kopfs, unverbeßerlich. Die Figur ist übrigens im höchsten Grad unedel, man erkennt in derselben eben so wenig einen Heiligen als einen Sterbenden, sondern blos das Ausdrucksleere, gefühllose Bildnis eines rothköpfigten Bauers, der vermuthlich dem Mahler zum Modell gedient hat. Vortreflich ist eine kleine Ecke Landschaft, die man durch das Fenster sieht.

II.ter Bevestigter Flügel auf der linken Seite des Altars

Der Heilige Antonius im Bischoffs Ornat in Lebensgrösse. Eine meisterhaftgezeichnete und gemahlte Figur, voll edlen Anstands und Ausdrucks. In dem Gesicht, Bart, Händen und Gewand, überall herrscht die gröste Wahrheit und Kunst. Vorzüglich schön, ist noch ein Fenster mit einer zerbrochenen Scheibe durch die ein Teufel seine Klauen nach dem Heiligen ausstreckt.

In allen bisher angezeigten Gemählden bemerkt man augenscheinlich die nämliche Manier der Zeichnung und der Behandlung, aber in Ansehung der höheren Theile der Kunst, der Erfindung, Zusamensezung und Bedeutung, stehen die übrigen weit unter der Creuzigung. Diese Bemerkung hat mich schon mehr als einmal auf den Gedanken gebracht, daß Albrecht Dürer blos das erste Gemählde, einer seiner Schüler aber die übrigen müße (könne) verfertigt haben. Was dieser Muthmaßung einen noch höheren Grad der Wahrscheinlichkeit giebt, ist die Verschiedenheit der Mutter Gottes Bilder deren man drey auf den angezeigten Gemählden antrift. Dürer mahlte sie, wie bekannt vorzüglich schön und so ist in allen seinen Theilen das erste auf der Creuzigung auch sogar dem Ideal, das sich der Vater der teutschen Kunst von der Heil: Jungfrau schuf, ähnlich. Die auf dem Zweyten und Vierten Stuk sind ganz von der ersten verschieden und scheinen beyde nach dem nemlichen Modell, nach einer sehr blonden und nicht gar schönen Frauensperson gemahlt zu seyn.

Die Statuen in dem innern des Altars sind von Holz und nach der Natur gemahlt. Die Bildniße des Heiligen Antonius sizend und des Heil: Hieronimus neben ihm stehend sind in Lebensgrösse und wegen der feinen und meisterhaften Ausführung, besonders in den Händen, merkwürdig. Der Heil: Antonius hat seine gewöhnlichen Begleiter, die Hirten und Schweine bey sich. Die kleinere Bildnisse in halben Figuren stellen den Heyland mit seinen Jüngern vor. Einige derselben sind bis zur Täuschung wahr und lebendig, alle aber gleich den Grosen so äußerst fleisig und genau ausgearbeitet, daß sie nebst den Gemählden zu denen man noch eine Begräbnis Christi, die die Kleineren Statuen bedeckt, rechnen muß, diesen Altar zu einer der merckwürdigsten und seltensten Gallerien des XVI.ten Jahrhunderts machen. ⋅3⋅

Zurück-Button Anmerkungen

1 Heinrich Alfred Schmid, Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald. Zweiter Teil [Textband] (Straßburg 1911) 329. Zur Anmerkung Button

2 Heinrich Alfred Schmid, Die Gemälde und Zeichnungen von Matthias Grünewald. Zweiter Teil [Textband] (Straßburg 1911) 329. Zur Anmerkung Button

3 Zitiert nach: Reiner Marquard, Mathias Grünewald und der Isenheimer Altar - Erläuterungen, Erwägungen, Deutungen (Stuttgart 1996) 121-139. Zur Anmerkung Button