Navigation zeigen
Navigation verbergen

Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Predigten von Marieluise Gallinat-Schneider

Vorabendmesse, 2. Oktober 2010, St. Peter, Bruchsal

1. Lesung

1 Wie lange, Herr, soll ich noch rufen, und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.
2 Warum lässt du mich die Macht des Bösen erleben und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit.
3 Der Herr gab mir Antwort und sagte: Schreib nieder, was du siehst, schreib es deutlich auf die Tafeln, damit man es mühelos lesen kann.
4 Denn erst zu der bestimmten Zeit trifft ein, was du siehst; aber es drängt zum Ende und ist keine Täuschung; wenn es sich verzögert, so warte darauf; denn es kommt, es kommt und bleibt nicht aus.
5 Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben. (Hab 1, 2-3; 2, 2-4)

Evangelium

In jener Zeit baten die Apostel den Herrn: Stärke unseren Glauben!
6 Der Herr erwiderte: Wenn euer Glaube auch nur so groß wäre wie ein Senfkorn, würdet ihr zu dem Maulbeerbaum hier sagen: Heb dich samt deinen Wurzeln aus dem Boden, und verpflanz dich ins Meer!, und er würde euch gehorchen.
7 Wenn einer von euch einen Sklaven hat, der pflügt oder das Vieh hütet, wird er etwa zu ihm, wenn er vom Feld kommt, sagen: Nimm gleich Platz zum Essen?
8 Wird er nicht vielmehr zu ihm sagen: Mach mir etwas zu essen, gürte dich, und bediene mich; wenn ich gegessen und getrunken habe, kannst auch du essen und trinken.
9 Bedankt er sich etwa bei dem Sklaven, weil er getan hat, was ihm befohlen wurde?
10 So soll es auch bei euch sein: Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen wurde, sollt ihr sagen: Wir sind unnütze Sklaven; wir haben nur unsere Schuldigkeit getan. (Lk 17, 5-10)

Ich hatte als Kind zwei absolute Lieblingsbücher, "Heidi" und "Der kleine Lord" und schaffte es, jedes Mal aufs Neue beim lesen völlig verheult vor lauter Rührung zu sein. Selbst heute geht es mir noch so, dass ich, wenn ich in der Weihnachtszeit den gestrengen Großvater Alec Guinness erlebe und am Ende Frieden zwischen ihm und Cedrics Mutter herrscht oder als ich mit meinen Kindern im KiKa die diversen Heidifilme schaute, immer noch muss ein Paket Tempos in der Nähe sein. Dabei weiß ich genau, wie es ausgeht und es ist ja wie bei jeder Schnulze, am Anfang werden wir in die Charaktere eingeführt, die hier hartherzige Großväter sind, die in ihrem Leben vieles falsch gemacht haben und unschuldige kleine Kindern, die deren Menschenverachtung knacken, im mittleren Teil gibt es Irrungen und Wirrungen, am Ende ist alles gut und die Übeltäter wurden, möglicherweise noch mit Gottes Hilfe zu guten Menschen gemacht. Der Schmalzfilm läßt grüßen! Und dennoch lechzen wir Menschen nach solchen Geschichten. Wir hoffen, dass das Leben so verläuft, dass Menschen nach diesem Strickmuster funktionieren und hoffen immer wieder aufs Neue auf ein Happy End, auch im realen Leben.

Liebe Gemeinde,

dabei wissen wir doch zu gut, dass es so meist nicht funktioniert. Wir hören in der heutigen Lesung beim Propheten Habakuk: "Warum lässt du mich die Macht des Bösen erleben und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit." Das liest sich doch wie die Klage eines Menschen im 21. Jh. Wir leiden unter zunehmender Gewalt und darunter, dass die Täter keine Reue empfinden, das sie zu Gefühlen der Einsicht nicht fähig sind. Aber wir stellen fest, dass Gewalterfahrungen seit Urzeiten zum Leben dazugehören, dass Menschen zu allen Zeiten entsetzt darüber waren, zu was ihre Mitmenschen fähig sind. Die Propheten haben immer gegen Gewalt und Ungerechtigkeit gepredigt und die Gläubigen ermahnt, umzukehren. Weil die Welt eben nicht gut ist, entsteht der Wunsch nach Flucht in eine heile Welt, in der wir alles ausblenden können, was unschön ist.

Im Prozess um den Amoklauf von Winnenden erlebe ich, dass ich den Wunsch empfinde, der Vater des Täters möge aufstehen, sich bei den Opfern und deren Angehörigen entschuldigen, er möge sagen, es war ein großer Fehler, einem psychisch angeschlagenen Jugendlichen mit Gewaltphantasien noch Zugang zu Waffen zu ermöglichen, er möge sagen, ich kann es nicht ungeschehen machen, aber ich gebe meine Waffen ab, ich gründe eine Stiftung für Gewaltopfer oder dergleichen, aber ich spüre, hier bin ich mit meiner Sehnsucht im Bereich jener Romane angelangt, in denen es eben so funktioniert.

Auch bei meiner Kirche hege ich den Wunsch, tatsächlich von ganzem Herzen auf die Missbrauchsopfer zuzugehen, aufzudecken, volle Klarheit herzustellen und das ohne Angst vor Gesichtsverlust, vor Schäden im Ansehen. Ich las, dass Erzbischof Zollitsch zu Beginn der Fuldaer Bischofskonferenz in einem Grundsatzreferat anmerkte: "Haben wir nicht das Bild unserer selbst und der Priester so stilisiert, dass der menschliche Abgrund übersehen wurde, vor dem unausweichlich auch der geweihte Mensch steht? Die Folge: Unehrliches Reden und Handeln, Mangel an Offenheit und Wahrhaftigkeit, Neigung zum Verdecken von Fehlern und Hinwegsehen über Verbrechen." Ich wünschte mir, dass diese Erkenntnis tatsächlich durchgängig unsere Bischöfe und Priester erfasst und ihnen Scham über die Geschehnisse wichtiger wird, als das Image der Kirche. Die Opfer sind Menschen, Gläubige, die sich tatsächlich Seelsorge wünschten, sie erleben aber oft, dass jetzt überall steht, man sei zum Gespräch bereit, stehe für die Begleitung zur Verfügung, aber wenn sie dies einfordern, ist doch niemand für sie da, weil es unangenehm ist und die Pfarrer sich dem oft nicht stellen wollen. Außerdem wird nur über die Fälle berichtet, die schon aufgedeckt sind, bei vielen anderen versucht man weiterhin totzuschweigen und hofft, die Opfer gehen nicht an die Presse und machen ihr Leid öffentlich. Das hat mit Gerechtigkeit nichts zu tun.

Unsere Firmanden haben bei der Erstellung ihres Gottesdienstes über Begriffe gesprochen, die ihnen besonders wichtig sind und dabei ging es auch um verzeihen und vertrauen. Diese Dinge kommen leider in realen Geschichten von Menschen, die große Fehler begangen haben, die andere Menschen missachtet und missbraucht haben, oft nicht vor.

Zusätzlich beobachten wir, dass die Gerechtigkeit oft nicht siegt. Nach menschlichen Kriterien werden nicht die bestraft, die es verdient hätten und die belohnt, die es verdient hätten. Der Prophet sagt: "Sieh her: Wer nicht rechtschaffen ist, schwindet dahin, der Gerechte aber bleibt wegen seiner Treue am Leben", aber so erleben wir es eben nicht. Im Alten Testament zieht sich die Frage nach dem Tun-Ergehen-Zusammenhang durch wie ein roter Faden. Es geht darum, dass gerechte Menschen auch ein gutes, langes Leben in Frieden und Freude führen dürfen, Ungerechte aber bestraft werden mit Krankheit, Leid und frühem Tod. Das Leben hält für uns jedoch auch viele unangenehme Überraschungen bereit. So erleben die Propheten und andere biblische Gestalten, dass es oft genau umgekehrt abläuft. Da leben die Ungerechten ein gutes, sorgenfreies Leben und die Gerechten werden Opfer von Leid und Sorge.

Gottes Plan mit uns Menschen scheint nach einem anderen Strickmuster zu funktionieren, nicht nach menschlichen Kriterien von Gerechtigkeit. Zumindest im Leben hier auf der Erde bekommen die Gerechten nicht unbedingt den Lohn für ihre Taten und die Ungerechten ebenso. Die Frage nach dem Warum ist eine der ältesten Fragen, die die Menschheit beschäftigt.

Ich kann in die Klage einstimmen: "Warum lässt du mich die Macht des Bösen erleben und siehst der Unterdrückung zu? Wohin ich blicke, sehe ich Gewalt und Misshandlung, erhebt sich Zwietracht und Streit." Dagegen steht der Wunsch nach einer Welt, die funktioniert, wie im Roman oder Film, einer Welt, in der Täter ihre Taten bereuen, in der Opfern Genugtuung widerfährt, in der es am Ende überall Happy Ends gibt. Nur, die Gerechten fallen wohl auch nicht vom Himmel. Ich gehöre in meiner eigenen Definition, wenn ich ganz ehrlich in mich hineinhöre, wohl eher zu den Gerechten, dabei fallen mir genügend Situationen ein, in denen ich auch froh war, dass niemand meine Fehler bemerkt hat, dass ich mich nicht offen zu etwas bekennen musste, was gründlich schief gegangen ist. Auch ich habe schon in Abgründe meines Ichs geschaut, auch ich habe schon so gestritten, dass ich mich nachher dafür geschämt habe.

Ich weiß nicht, ob ich den Mut des Alm-Öhi habe, mein Leben ändern zu lassen, mich zu dem in meiner Vergangenheit zu bekennen, was falsch war und auf andere zuzugehen, mit denen ich im Streit lebe, die mich verletzt haben oder von denen ich mich ungerecht behandelt fühle. Der Wunsch nach Umkehr scheint ja ein Wunsch vieler zu sein, zumindest in Büchern und Filmen ergötzen wir uns alle an Geschichten über Helden, die am Ende umgekehrt sind, sich zu ihren Fehlern bekennen und ein besseres Leben führen. Aber im realen Leben handeln wir nicht demgemäß. Wie der Ruf der Propheten früher ungehört verhallt ist, so tut er es heute auch noch.

Folgen dem Wunsch, Geschichten über Umkehr zu lesen, auch Taten? Bastle ich selbst denn überhaupt daran mit, dass die Welt heil wird, dass sich die Dinge ändern, dass Menschen auch das Vertrauen haben können, dass eine Änderung ihres Verhaltens sich lohnt? Setze ich etwas gegen Zwietracht und Streit, gegen die Macht des Bösen, gegen Unterdrückung?

Ich erwarte von den anderen, dass sie sich verhalten wie die Helden im Roman, dass sie sich ändern, erkennen, wo Fehlverhalten war. Ich jedoch leiste diesen Einsatz nicht. Welche Zeichen setze ich? Im Evangelium macht Jesus den Jüngern deutlich, dass er sie zu ihrer Arbeit berufen hat, sie aber oft seinen Ansprüchen nicht gerecht werden. Auch ich empfinde meine Berufung, setze aber meine Bemühungen nicht konsequent um. Mehr schlecht als recht tue ich das, von dem ich meine, dass Gott es von mir erwartet und wenn mir dennoch durch ihn Gerechtigkeit widerfährt, dann ist dies ein Geschenk, verdient habe ich es mir nicht.

(Marieluise Gallinat-Schneider)