Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider
Gedenkansprache anlässlich des 85. Jahrestages, 22. Oktober 2025, Ehemalige Synagoge, Bruchsal
Vertreibung der Bruchsaler Juden in das Deportationslager im südfranzösischen Gurs
Liebe Mitbürgerinnen und -bürger, lieber Herr Oberbürgermeister,
Mich hat letzthin eine Zeitungslektüre aufgeschreckt, in der es darum ging, dass Literatur aus Schulbüchereien in den USA entfernt wurde: Verboten wurden unter anderem Margaret Atwoods "The Handmaid's Tale", George Orwells "Farm der Tiere" und "1984" sowie das "Tagebuch der Anne Frank". Diese Werke gelten als zentrale Texte der Weltliteratur und waren bislang oft Pflichtlektüre an Schulen.
Jeden Tag lesen wir Schreckensmeldungen, was inzwischen alles in den USA passiert, wie dort Zensur und antidemokratisches Verhalten um sich greifen, wie Erinnerungskultur plötzlich umgewidmet wird.Das Tagebuch der Anne Frank ist für mich ein essentielles Werk, um schon Kinder und Jugendliche an das Thema Holocaust heranzuführen. Auch der Junge im gestreiften Pyjama oder Judith Kerrs Als Hitler das rosa Kaninchen stahl sind für mich wichtig, um das Thema der Judenverfolgung im Nationalsozialismus wach zu halten. Bei uns in der Familie lief halt immer vieles über Bücher und Lesen, das Tagebuch der Anne Frank hat meine Mutter schon in der Schule gelesen und an mich weitergegeben und so habe ich es auch bei meinen Töchtern getan.
Gedenken verändert sich, je weniger Zeitzeugen noch leben, je mehr muss überlegt werden, wie solche Veranstaltungen wie heute, gestaltet werden können, wie junge Menschen an die Geschehnisse der Nazidiktatur herangeführt werden können. Schön, dass Florian Jung seine Schülerinnen und Schüler des JKG mit den Recherchen zu den Familien, für die Stolpersteine verlegt werden, betraut und so eine junge Generation von den Ereignissen erfährt. Es muss die Erinnerung an die Geschehnisse in Deutschland von 1933-45 wach gehalten werden, auch und gerade in den nachfolgenden Generationen. Dafür ist ein Tag wie heute wichtig, ein Tag, an dem wir auch gerade hier in Bruchsal daran denken, was vor 85 Jahren hier am Bruchsaler Bahnhof geschah, wie viele Menschen von hier nach Gurs deportiert wurden und damit in den Tod geschickt wurden, weil die Verhältnisse im Lager katastrophal waren. Mich erfüllt es bis heute mit Entsetzen und Scham, wenn der Gauleiter sich damals damit brüstete, dass Baden nun judenfrei ist. Die Tatsache, wie viele Menschen damals ihre Heimat, ihre Häuser und Wohnungen, ihre Existenz und ihr Hab und Gut verloren, darf niemals vertuscht werden. Darüber darf nicht geschwiegen werden. Deswegen stehe ich heute hier als Vertreterin der christlichen Kirchen in Bruchsal und will erinnern, will gedenken, damit die Menschen niemals vergessen, was jüdischen Menschen angetan wurde. Ich empfinde es als Verpflichtung, auch und gerade heute, wo Antisemitismus wieder um sich greift, wo Bücher wie Anne Franks Tagebuch aus den Bibliotheken verschwinden und Unverständnis darüber herrscht, wieso nach so vielen Jahren immer noch an Ereignisse aus dem Oktober 1940 erinnert wird. Viele haben damals weggeschaut. Dem Theologen Dietrich Bonhoeffer wird das Zitat zugeschrieben: „Man hat immer ein reines Gewissen - wenn man es nicht benutzt.“ Schauen wir hin, hören wir auf unser Gewissen.
Denn als Christin sagt mir mein Gewissen: Vor Gott sind alle Menschen gleich, gleich gut und gleich wichtig. Da gibt es keine Unterschiede. So will ich mich mit einem kleinen Text von Andreas Knapp einem Pfarrer und Lyriker schließen:
Ecce homo (Siehe der Mensch)
Auf den ersten Blick
ein Untermensch
ein Übermensch
ein Unmensch
Auf den zweiten Blick
unter die Haut
bis ins Herz ein Mensch
Soweit das Gedicht. Und weil wir alle bis ins Herz ein Mensch sind, ohne Unterschied und ich diesen Menschen sehe, darf auch niemand von uns geächtet, vertrieben, verfolgt oder aus der Gesellschaft ausgestoßen werden. Danke für Ihre Aufmerksamkeit
(Marieluise Gallinat-Schneider)