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Marieluise Gallinat-Schneider

Gemeindereferentin in Bruchsal

Gedenkansprachen und Reden von Marieluise Gallinat-Schneider

Gedenkansprache am Volkstrauertag, 15. November 2020, Aussegnungshalle, Friedhof Bruchsal,

Gestern vor 80 Jahren begann mit der „Operation Mondscheinsonate“, dem schweren Luftangriff auf Coventry vom 14. November 1940, bei dem 550 Menschen starben, der deutsche Luftkrieg vor allem auf Ziele in England. Eigentlich wollten wir aus diesem Anlass von der ACG aus ein Gedenken veranstalten, das leider ausfallen musste. Dieser Gottesdienst sollte den Endpunkt im Veranstaltungsheft der Stadt Bruchsal bilden, in dem die zahlreichen Gedenkveranstaltungen des Jahres 2020 aufgelistet sind. Einiges davon fand statt, einiges musste ausfallen, weil im März die Coronapandemie unser Leben jäh veränderte. Immer jedoch lag das Heft mit den Gedenkveranstaltungen bei mir in greifbarer Nähe. Es ist überschrieben Erinnern – Verstehen – Versöhnen Trotz der Schwere der Zerstörung von Coventry, die auch die spätmittelalterliche St. Michael’s Kathedrale traf, ist dieses Gedenken dennoch unter dem Stichwort Versöhnung anzusiedeln. Der damalige Dompropst der Kirche ließ die Worte „Father forgive“ in die Chorwand der Ruine meißeln. Als Antwort auf die Operation Mondscheinsonate haben die Alliierten zahlreiche deutsche Städte bombardiert und zerstört. Auch der 1. März 1945 als Tag der Zerstörung Bruchsals ist gewissermaßen ein Resultat des 14.11.1940.

Zum Glück wurde nach 1945 die die Spirale von Hass und Gewalt, von Rache und Feindschaft durchbrochen und es gab die Bereitschaft, Schritte zu Versöhnung und Frieden zu unternehmen.

Ein solcher Ort ist auch Coventry, wo es Menschen gab, die in den 1950ger Jahren aus ihrem Glauben heraus die Ruine der Kirche als Mahnmal nutzten und von dort aus ein Versöhnungsgebet und Friedensarbeit initiierten. Weltweit haben sich ökumenische Glaubensgemeinschaften als Nagelkreuzgemeinschaft gebildet. Ausgehend von dem Satz „Vater vergib“ haben diese an der Versöhnungsarbeit ehemals zerstörter Städte und Kirchen gearbeitet. Dazu zählt u.a. die ACK Karlsruhe. Es gibt Überlegungen, auch in Bruchsal beizutreten. Inzwischen geht es nicht mehr nur um Versöhnungsarbeit in Europa nach dem 2. Weltkrieg, sondern um Versöhnungsarbeit und Frieden allgemein.

Die Kathedralen bildeten dabei oft den symbolischen Rahmen für den Schulterschluss. Ich denke auch an Vezélay im französischen Burgund, wo 1946 f die neugegründete internationale katholische Friedensorganisation „Pax Christi“ zu einer bemerkenswerten Pilgerfahrt aufrief, zum Kreuzzug des Friedens nach Vezelay. Von dieser Kathedrale ging der 2. Kreuzzug im 12. Jh. aus. Nach dem 2. Weltkrieg reihten sich Deutsche aus einem Kriegsgefangenenlager mit in den Kreuzzug des Friedens ein und brachten ihr Kreuz mit. Immer wenn ich in der Kathedrale stehe, halte ich am Kreuz der Deutschen inne, denn es hat sicher damals Mut und Vergebungbereitschaft erfordert, die Kriegsgefangenen mit einzuladen und ihnen die Hand zu reichen.

Ein Ort der Versöhnungsarbeit ist auch die Kathedrale von Reims. Dort gab es 1962 eine Friedensmesse, die der deutsch-französischen Aussöhnung diente und an der de Gaulle und Adenauer als Regierungschefs teilnahmen.

Wenn es nach dem 2. Weltkrieg nicht diese Initiativen und Menschen gegeben hätte, die bereit gewesen wären, Rachegedanken zu unterbinden und sich im Geiste Christi, der immer wieder Feindesliebe gepredigt hat, bereit erklärt hätten, den anderen die Hand zu reichen, wären wir in Deutschland und Europa heute nicht da, wo wir stehen.

Aber gerade durch das engere Zusammenrücken aller Länder müssen wir Unterschiede und Vielfalt aushalten, müssen vielmehr darum ringen, uns gegenseitig zu respektieren. Die Angriffe der letzten Wochen haben gezeigt, dass genau dieses Ziel sehr bedroht ist. Die Anschläge des IS in Frankreich, Wien und Dresden, wurden von Tätern ausgeführt, die sich im Krieg gegen Andersgläubige befinden.

Wir müssen gegen den Impuls angehen, Menschen pauschal zu verurteilen. Gerade jetzt ist es wichtig, nicht alle Muslime zu verurteilen. Wenn wir als Deutsche nach dem Krieg weiter für alle nur das Tätervolk geblieben wären, wäre eine Versöhnung, wie sie von Coventry ausging, niemals möglich geworden.

Wir müssen achtsam im Umgang mit unseren Mitmenschen sein und bleiben. Insgesamt hat sich das Klima zwischen Menschen, die einen anderen Glauben, andere politische Ansichten, andere Lebensmodelle oder eine andere Meinung zu bestimmten Themen haben, zunehmend verschlechtert. Es fehlt eine Kultur des gegenseitigen Respektes, bei der wir es schaffen, die andere oder den anderen ernst zu nehmen und gegenseitig die Argumente und Gedanken zu hören ohne gleich zu polarisieren oder in Hetze hineinzugeraten.

Die Coronakrise hat manche Gräben in der Gesellschaft noch verschärft. Außerdem machen gerade gefährliche Verschwörungstheorien die Runde. Es werden die Schuldigen für die Coronainfektion gesucht. Dagegen müssen wir uns positionieren.

Gedenken ist ein wichtiges Mittel dafür und ein unverzichtbarer Bestandteil unserer Gesellschaft. Durch die Gräueltaten des Nationalsozialismus und den daraus resultierenden Zweiten Weltkrieg sind Millionen von Menschen gestorben. Wir dürfen die Opfer und ihr Leid nicht vergessen, auch und gerade in der Pandemie nicht. Natürlich ist in dieser Zeit auch für uns als Christen vieles schwierig. Durch den Lockdown haben wir auf Gottesdienste verzichten müssen. Wir haben erlebt, dass Menschen einsam waren und niemand sie trösten durfte. Sterbende und ihre Familien konnten nicht wie sonst begleitet werden. Wir spüren, wie vielen eine tröstende Hand fehlt. Gerade unter den Senioren habe ich Rückmeldungen bekommen, die sagen, es ist wie damals im Krieg. Dadurch wurde es kälter in unserer Gesellschaft. Mir ist es wichtig, gegen diese Kälte anzugehen. Für mich ist ein Mittel das Gebet. Mir ist es wichtig, alles, was mich bewegt, auch und gerade die schlimmen Ereignisse, vor Gott zu bringen. In den letzten Monaten haben viele von uns auf die Kraft des gemeinsamen Gebets vertraut. Zeichen setzen im Gebet konnten wir auch, als reale Begegnungen nicht möglich waren. Wir haben diese Verbindung neu schätzen gelernt.

Von Coventry ging ein Gebet um die Welt, ein Gebet, das zur Versöhnung aufruft und dazu, den Blick auf die Verfehlung der Menschen zu richten und auf die, leiden unter Flucht, Krieg, Hunger und gerade auch jetzt besonders auf Krankheit. Ich vertraue darauf, dass Beten helfen kann.

Heute an diesem Volkstrauertag möchte ich an den 80. Jahrestag der Zerstörung von Coventry erinnern und an die Friedensarbeit, die seit 75 Jahren geleistet wird. Ich möchte enden mit dem Gebet von Coventry, das jeden Freitag um 12 Uhr gebetet wird.

Hören wir also nun das Gebet von Coventry

„Alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten.“ (Römerbrief 3,23)
Den Hass, der Rasse von Rasse trennt, Volk von Volk, Klasse von Klasse: Vater, vergib.
Das Streben der Menschen und Völker zu besitzen, was nicht ihr Eigen ist: Vater, vergib.
Die Besitzgier, die die Arbeit der Menschen ausnutzt und die Erde verwüstet: Vater, vergib.
Unseren Neid auf das Wohlergehen und Glück der anderen: Vater, vergib.
Unsere mangelnde Teilnahme an der Not der Gefangenen, Heimatlosen und Flüchtlinge: Vater, vergib.
Die Entwürdigung von Frauen, Männern und Kindern durch sexuellen Missbrauch: Vater, vergib.
Den Hochmut, der uns verleitet, auf uns selbst zu vertrauen und nicht auf Gott: Vater, vergib.
„Seid untereinander freundlich, herzlich und vergebe einer dem anderen, wie Gott euch vergeben hat in Jesus Christus.“ (Epheserbrief 4,32) Amen.

(Marieluise Gallinat-Schneider)