Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Das Entstehen der Gattungsforschung

1. Das erwachte Interesse an Einzelstoffen

Ein anderes Ergebnis dieser Funde war allerdings auch - und das war für die weitere Entwicklung der Pentateuchforschung viel bedeutsamer -, dass man sich nun wieder vor allem den einzelnen Texten zuwandte.

Hatte man in der bisherigen Forschung vor allem nach Schichten und Zusammenhängen zwischen einzelnen literarischen Einheiten gesucht, so gewann nun die einzelne literarische Einheit wieder eine eigene Bedeutung. Man blickte nun ja fasziniert nach Babylon und verglich die biblischen Texte mit den babylonischen Parallelen.

Wenn ich aber anfange einzelne Texte mit anderen Texten zu vergleichen, dann ist es ja beinahe eine logische Folge, dass ich den einzelnen Text genauer betrachte. So wendet man sich nun also vor allem dem einzelnen Stoff zu, dem Inhalt einer Erzählung und ihrer Eigenart.

Es waren also gerade diese Vergleiche zwischen babylonischen Epen und Mythen und biblischen Texten, die der Pentateuchforschung einen neuen Impuls gaben. Sie lenkten den Blick weg von den großen Erzählfäden hin zu den Erzählstoffen, den Erzählgeschichten.

2. Hermann Gunkel und der Begriff "Gattung"

Vor allem Hermann Gunkel (1862-1932), Alttestamentler in Gießen und Halle, wandte sich dieser Frage zu und wurde gleichsam der Altmeister und Begründer dieser neuen Blickrichtung unter der man in der Folge den Pentateuch analysierte.

Gunkel praktizierte seine Methode erstmals in seinem (Erstlings-)Werk "Schöpfung und Chaos in Urzeit und Endzeit", das im Jahre 1895 erschien.

Gunkel untersuchte vor allem den altorientalischen Schöpfungsmythos, das "Enuma-Elisch". Diesen Text verglich er nun mit dem ersten Schöpfungsbericht (Gen 1,1-2,4a) und mit Offb 12, dem Kampf Michaels im Himmel mit der Schlange.

Gunkel untersuchte dabei

  • die Eigenart,
  • Struktur,
  • sprachliche Besonderheit,

kurz die Form der einzelnen Texte.

Seine dabei gemachten Entdeckungen waren bahnbrechend. Gunkel konnte zeigen, dass sowohl das "Enuma-Elisch" als auch der biblische Schöpfungsbericht Texte von ähnlicher Form waren, das heißt, sie wiesen eine ähnliche Eigenart, Struktur und sprachliche Besonderheit auf.

Aber auch die Apokalypse des Johannes wies im 12. Kapitel einen Erzählstoff auf, der wiederum von ähnlicher Form war, wie etwa der Schöpfungsbericht oder das "Enuma-Elisch".

Gunkel wies also nach, dass eine formale Verwandtschaft zwischen diesen drei Texten vorlag. Und nicht nur zwischen diesen drei Texten.

Er konnte darüber hinaus erheben, dass die "literarische Form" des "Enuma-Elisch" und des biblischen Schöpfungsberichtes genau die gleiche war, wie diejenige, die andere Erzählungen aus zum Teil anderer Zeit und anderen Sprachen aufwiesen, sofern sie nur den gleichen Stoff darboten.

Nach Gunkels These fand demnach die literarische Form der babylonischen Mythen, durch all ihre phönizischen, kanaanäischen und israelitischen Abwandlungen hindurch, in der jüdischen Apokalyptik und letztlich dann in der Apokalypse des Johannes eine Fortsetzung. ⋅1⋅

Er zeigte also, dass alle diese Texte formal miteinander verwandt waren, also so etwas wie eine große Textfamilie bildeten.

Dies war aber nicht nur bei den Texten der Fall, die mit Schöpfung oder apokalyptischen Schilderungen zu tun hatten. Bei anderen Texten, die einen anderen Stoff zum Inhalt hatten, stellte Gunkel ähnliches fest.

Man fasst nun all die Texte, die jeweils eine ähnliche Form aufweisen, jeweils zu einer Gruppe zusammen. Solch eine Familie formverwandter Texte nennt man eine "Gattung".

3. Der "Sitz im Leben" ⋅2⋅

Hermann Gunkel stellte nun fest, dass eine solche Gattung jeweils einen ganz spezifischen "Sitz im Leben" hat.

Was meint er mit dieser merkwürdigen Bezeichnung? Versuchen wir uns dies an einem Beispiel klar zu machen.

Eine der Gattungen, die in der Bibel häufig begegnet, ist das Lied, genauer gesagt, das Lob- und Preislied. Wir nennen diese Gattung auch "Hymnus". Das heißt, es gibt eine Fülle von Texten, die sich in ihrer Form sehr stark ähneln und zur Gattung "Hymnus" zusammenfassen lassen.

Ich kann jetzt all die Hymnen auf auffällige Übereinstimmungen untersuchen. Dabei ist bei den Hymnen vor allem die Einleitung interessant, der sogenannte Aufgesang.

Sehe ich die Aufgesänge der einzelnen Hymnen im einzelnen durch, dann kann ich folgendes feststellen:

  • Ganz selten wird in diesen Aufgesängen ein einzelner aufgefordert, Gott zu loben. In aller Regel wendet sich die Aufforderung zum Lobgesang an eine Gruppe von Menschen, eine Gemeinschaft.
    "Sein Lob erschalle in der Gemeinde der Frommen" (Ps 149,1)
  • Eine Vielzahl von Hinweisen ergeben, dass Hymnen in aller Regel offensichtlich nicht gebetet sondern gesungen wurden:
    "Singet Jahwe ein neues Lied." (Ps 98,1)
  • Dabei handelt es sich allerdings kaum um einen Gesang a capella. Die Vielzahl der genannten Musikinstrumente lassen darauf schließen, dass die Hymnen normalerweise durch diese Musikinstrumente begleitet wurden.
    "Lobet ihn mit Hörnerschall, lobet ihn mit Harfe und Zither, lobet ihn mit Pauke und Reigen, lobet ihn mit Geige und Flöte." (Ps 150,3-4)
See Gennesaret

See Gennesaret -
Sonnenuntergang vom Seeufer aus.

Foto-Button© Katholisches Bibelwerk Linz,
Kapuzinerstr. 84, A-4020 Linz

So kann man also, wenn man die Gattung "Hymnus" genauer untersucht, das heißt die einzelnen Hymnen miteinander vergleicht, feststellen, dass der Hymnus ein Lied ist, das von einer Gruppe von Menschen unter Musikbegleitung gesungen wurde. Dies lässt wiederum an eine festliche Gelegenheit denken, vor allem, wenn man an die Art der Musikinstrumente denkt. Der Schluss liegt also nahe, dass es sich um gottesdienstliche Feiern und dann - nach der Kultzentralisation in Jeru­sa­lem - um Gottesdienste am Tempel handelte.

So zeigt die Analyse des Textes also, dass der Hymnus seinen "Sitz im Leben" im Tempelkult hatte.

Bei weiterer Untersuchung einzelner Texte, kann ich diesen Sitz im Leben noch einmal spezifizieren. Ein gutes Beispiel hierfür ist etwa Psalm 8⋅3⋅

Wenn es hier heißt:

"Ich schaue den Himmel, das Werk deiner Finger,
den Mond und die Sterne, die du geschaffen." (Ps 8,4.)

dann fällt hier auf, dass die Sonne nicht erwähnt wird. Die betende Gruppe von Menschen sah beim Betrachten des Himmels offenbar den Mond und die Sterne und nicht die Sonne. So können wir darauf schließen, dass der Psalm in der Nacht, möglicherweise im Freien gebetet wurde.

So kann man daraus folgern: Der Sitz im Leben der Hymnen ist der Gottesdienst und der Sitz im Leben von Psalm 8 im speziellen ist demnach der Nachtgottesdienst am Tempel.

Dies lässt sich auch noch durch ein anderes formales Element belegen. Der erste und der letzte Vers sind völlig identisch. Beide Verse muten demnach wie ein Kehrvers an. Er könnte im Dunkeln leicht von allen auswendig gesungen worden sein, während dann der Mittelteil allein von einem Vorsänger vorgetragen worden wäre.

Die von Gunkel entwickelte Methode der "Gattungs- und Formkritik" ermöglichte also den Sitz im Leben eines Textes, seine ursprüngliche Bestimmung und Verwendung näher zu erfassen. Dies ist ungeheuer wichtig. Wenn ich weiß, welchen Verwendungszweck ein Text hatte, dann kann ich seine inhaltliche Aussage viel genauer einordnen.

Es ist eben ein Unterschied, ob ich einem bestimmten Wort in einem Liebeslied zur Brautwerbung oder einer Quittung beim Abschluss eines Geschäftes begegne.

Seit Gunkel ist ganz klar, dass ich bei der Auslegung eines Textes zuerst überprüfen muss, mit welcher Gattung ich es beim vorliegenden Text zu tun habe. Daher ist es wichtig, die einzelnen literarischen Gattungen, die in der Bibel vorkommen, zu kennen.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Vgl. H. Cazelles, Die Thora oder der Pentateuch, in: André Robert, A. Feuillet, Einleitung in die Heilige Schrift (Wien 1963) I/319. Zur Anmerkung Button

2 Vgl. zur Untersuchung des Sitzes im Leben von Hymnen vor allem: Gerhard Lohfink, Jetzt verstehe ich die Bibel - Sachbuch zur Formkritik (Stuttgart 1972) 39. Zur Anmerkung Button

3 Hier Psalm 8 im größeren Zusammenhang:
"Jahwe, unserer Herr! Wie wunderbar ist auf der ganzen Erde dein Name!
Dein Glanz über den Himmel hin wird besungen aus dem Munde der Kinder und Kleinen.
Du hast ein Bollwerk gebaut deinen Feinden zum Trotz,
um Widersacher und Rebellen zum Schweigen zu bringen.
Ich schaue den Himmel, das Werk deiner Finger,
den Mond und die Sterne, die du geschaffen:
Was ist der Mensch, dass du seiner gedenkst!
Des Menschen Sohn, dass du Sorge tragest um ihn!
Du hast ihn fast zu einem Gotteswesen gemacht,
hast ihn gekrönt mit Glorie und Glanz.
Du hast ihm Macht gegeben über das Werk deiner Hände,
alles hast du ihm zu Füßen gelegt:
All die Schafe und Rinder und die Tiere des Feldes.
Die Vögel des Himmels und die Fische im Meer
und alles, was dahinzieht die Pfade der Meere.
Jahwe, unser Herr! Wie wunderbar ist auf der ganzen Erde dein Name!"
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