Unser Glaube

Ein Versuch zeitgemäßer Antworten


Weiter-Button Zurück-Button "Als aber Kephas ... kam, widerstand ich ihm ins Angesicht..." (Gal 2,11) - Zu Papst, Konzil und Gewissen

Kann ein Mensch unfehlbar sein? Was heißt es, wenn von Unfehlbarkeit gesprochen wird? Wie statisch ist die Kirche, und welche Rolle spielt Veränderung? Welchen Stellenwert hat das Gebot und wie steht es um mein Gewissen? Was kann mir Kirche vorschreiben?


Vor einiger Zeit hat sich ein evangelischer Kollege einmal bei mir beklagt. Eine Umfrage unter evangelischen Christen, die aus ihrer Kirche ausgetreten waren, habe ergeben, dass neben der Kirchensteuer der zweithäufigste Grund für einen Austritt aus der evangelischen Kirche, der Papst sei. Dass der Papst dies oder jenes gesagt habe, das habe dann den letzten Ausschlag gegeben die Kirche - wohlgemerkt: die evangelische Kirche - zu verlassen.

Ein Umstand, der mir neu bewusst gemacht hat, welche Bedeutung der Papst weit über die Grenzen der römisch-katholischen Kirche hinaus hat. Gerade für diejenigen, die in größerer Distanz, egal zu welcher Kirche leben, scheint der Bischof von Rom manchmal schon der Inbegriff des Christentums und damit dann natürlich auch aller seiner Schattenseiten zu sein.

Vom Fischer Simon zum Pontifex Maximus

Wie konnte eine einzelne Person solch eine Bedeutung, solch eine Machtfülle erlangen? Wie konnte aus dem einfachen Fischer Simon Petrus der Pontifex Maximus, der Papst werden?

Das Neue Testament allein kann diese Entwicklung nicht erklären. Die Christen im Osten Europas haben genau die gleiche Bibel - und bei ihnen hat die Geschichte eine ganz andere Entwicklung genommen. Und das von Anfang an! Hinzu kommt, dass auch im Westen - in der sogenannten lateinischen Kirche - das Papsttum erst ab dem fünften Jahrhundert die uns bekannten Formen annimmt.

Johannes Paul II.

Johannes Paul II. beim Besuch in Fulda.

Foto: Jörg Sieger, November 1980

Dass es dies tat, haben wir wohl nicht zuletzt einem einmaligen geschichtlichen Umstand zu verdanken: Ende des vierten Jahrhunderts war das Christentum bekanntermaßen Staatsreligion im römischen Reich geworden. Rom war damals schon geteilt. Im Gebiet des oströmischen Reiches lagen die Sitze der Patriarchen von Konstantinopel, Jerusalem, Antiochien und Alexandrien. Im weströmischen Reich lag lediglich ein Patriarchensitz: der des Bischofs von Rom. Als nun die Wirren der Völkerwanderungszeit begannen, brach im Westen des Imperium Romanum jegliche staatliche Ordnung völlig zusammen. Die Befehlshaber der gotischen Heerscharen fanden auf römischer Seite nicht einmal mehr richtige Verhandlungspartner vor. Es war ein totales staatliches Chaos eingetreten. Es herrschte - verkürzt gesagt - ein regelrechtes Machtvakuum. Die einzige Größe, die überhaupt in der Lage war, diese Leere annähernd auszufüllen, war die Kirche mit ihrer überkommenen, an der Ordnung des römischen Imperiums orientierten Struktur - mit dem Bischof von Rom an ihrer Spitze.

Ab dieser Zeit können wir erst richtig von einem Papsttum sprechen, denn jetzt zog der Bischof von Rom in einem beträchtlichen Territorium auch die weltliche Herrschaft an sich. Er wurde einerseits von der geschichtlichen Entwicklung in diese Rolle hineingedrängt - er musste jetzt auch die staatliche Ordnung garantieren -, andererseits hat das Papsttum diese Position - nämlich Garant der weltlichen und der geistlichen Ordnung zu sein - in der Folge auch dankbar angenommen und zu jenem gewaltigen Machtapparat ausgebaut, den wir aus der Geschichte kennen.

Unheiliges Rom

Fast alle Fehlentwicklungen, die wir im Verlauf der weiteren Geschichte zu beklagen haben, haben ihre Wurzeln letztlich in den Vorgängen dieser Zeit. Wer eine Machtposition einmal innehat, muss sie auf Dauer auch sichern. Es entstanden päpstliche Truppen, genauso wie der unselige, das ganze Mittelalter andauernde Streit zwischen Papst und Kaiser um die Vormachtstellung. Und es entstand auch manch unheilige Allianz zwischen Thron und Altar.

Vieles in unserer Kirche wurde und wird bis in unsere Tage durch diese Entwicklung gelähmt; Entwicklungen, die von Jesus Christus her so sicher nicht gedacht waren.

Der Dienst der Einheit

Was aber ist dann gedacht? Wie soll das Papsttum sinnvollerweise sein? Welchen Sinn hat es?

Ich denke, es ist unverzichtbar! Es braucht in jeder Gemeinschaft Menschen, die zusammenführen, bei denen Linien zusammenlaufen und die in der Lage sind, neu zu motivieren, Dinge wieder auf den Punkt zu bringen und an das Wesentliche zu erinnern.

Das braucht es im Großen nicht weniger wie im Kleinen: Es braucht ein Dienstamt, das zusammenführt. "Dienst der Einheit" nennt das die Theologie. Und Jesus selbst umschreibt es im Auftrag an Petrus so: "Stärke Deine Brüder (und Schwestern)!" (Lk 22,23) Das ist der eigentliche Sinn des Papstamtes.

Vollmacht und Autorität

Solch ein Amt, das Menschen verbinden soll, braucht natürlich ganz klar auch eine verbindliche Sprache! Ohne Verbindlichkeit und die dazugehörige Autorität gibt es keine dauerhafte Stabilität unter den Menschen. Der Papst ist kein Diktator und sein Amt ist auch nicht dazu da, die Menschen zu bevormunden. Andererseits braucht er aber eine große Autorität, weil sie ihm ermöglicht, eine weltweite Gemeinschaft zusammenzuhalten. Er braucht eine auf Gott gründende Autorität, göttliche Vollmacht.

Ist ein Papst ohne Fehler?

Aber heißt das, dass er in allem unfehlbar, ohne Fehler, ist? Ganz sicher nicht! In diesem Sinne ganz sicher nicht!

Natürlich hatten auch die Päpste Fehler und Schwächen; und das nicht nur in der Vergangenheit - beispielsweise bei den berüchtigten Päpsten der Renaissancezeit.

Auch der Papst hat seine Fehler. Nicht umsonst gibt es schließlich auch heute noch einen Beichtvater des Papstes. Der Papst bräuchte nicht zu beichten, wenn er ohne Fehler wäre. Wenn von Unfehlbarkeit des Papstes gesprochen wird, dann meint das etwas anderes.

Was heißt päpstliche Unfehlbarkeit?

Wie in jeder Gemeinschaft, so braucht es auch in der Kirche jemanden, der Streitfälle entscheidet. Und ganz besonders wichtig ist das, wenn es um Streitfälle des Glaubens geht oder darum, was im Sinne Jesu noch zu vertreten ist und was nicht.

Schon seit jeher war es Aufgabe des Papstamtes, in solchen Zweifelsfällen zu entscheiden und zu schlichten. Dabei ist es ganz wichtig, dass es nicht darum geht, dass der Papst seine eigene Meinung zum Maß aller Dinge macht. Es geht vielmehr darum, dass er in solchen Fällen feststellt, welches nun die Auffassung ist, die am ehesten dem entspricht, was die Kirche immer schon geglaubt hat. Er kann also nicht einfach irgendetwas Neues festschreiben und erst recht nicht etwas, was mit dem Evangelium oder der kirchlichen Tradition nicht übereinstimmt.

Die Dogmatisierung der Aufnahme Mariens in den Himmel als Beispiel

Wenn beispielsweise der Papst im Jahr 1950 verkündet hat, dass Maria als ganzer Mensch mit Leib und Seele in den Himmel aufgenommen wurde, dann ist das kein neuer Glaubenssatz. Der Papst hat dabei lediglich festgestellt, dass der Umstand, dass Maria in den Himmel aufgenommen worden ist - obwohl er nicht in unserem Glaubensbekenntnis steht - schon seit jeher in der Kirche geglaubt wurde. Und dass dies so ist, kann man ja unschwer an den vielen alten Decken- und Altargemälde mit der Darstellung der Aufnahme Mariens in den Himmel ablesen.

Die Formulierung des I. Vatikanischen Konzils

Unfehlbarkeit bedeutet: Wenn der Papst ganz ausdrücklich - vom Bischofsstuhl des Bischofs von Rom aus - in Glaubens- und Sittenfragen eine Entscheidung trifft, dann steht ihm der Heilige Geist zur Seite und Gott verhindert, dass er dabei eine falsche Entscheidung treffen kann. So, in diesem ganz engen Rahmen, hat es das Erste Vatikanische Konzil im Jahre 1870 formuliert.

Einen negativen Beigeschmack hat diese Formulierung dadurch bekommen, dass sie im Grunde auch einen Schlussstrich unter die jahrhundertealte Frage ziehen wollte, wer denn in der Kirche nun eigentlich "das Sagen hat": der Papst oder das Konzil. Damit kommt natürlich wieder ein Machtaspekt ins Spiel. Das Erste Vatikanische Konzil entscheidet diese Frage eindeutig zugunsten des Papstes. Der Papst steht in seiner Entscheidung selbst über dem Konzil.

Petrusamt und Kollegialität der Apostel in der Hl. Schrift

Von der Bibel her ist diese Frage gar nicht so eindeutig zu entscheiden. Natürlich wird in der berühmten Stelle Petrus gleichsam die Schlüsselgewalt übergeben:

"Du bist Petrus der Fels. [...] Ich werde dir die Schlüssel des Himmelreiches geben; was du auf Erden binden wirst, das wird auch im Himmel gebunden sein, und was du auf Erden lösen wirst, das wird auch im Himmel gelöst sein." (Mt 16,18-19)

Aber genau zwei Kapitel später wiederholt Jesus diesen Satz wortwörtlich allen Jüngern gegenüber:

"Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein, und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein." (Mt 18,18)

Von der Bibel her haben demnach alle Jünger die gleiche Vollmacht. Und die kirchliche Tradition hat von daher allen Bischöfen immer die gleiche Weihe und die gleiche bischöfliche Autorität zugesprochen. Der Papst hat keine andere Weihe als alle anderen Bischöfe auch.

Vorprogrammierte Spannungen?

Vielleicht sind die Auseinandersetzungen, die es auf diesem Hintergrund zwischen den Bischöfen und vor allem zwischen den Bischöfen und den Päpsten in der Geschichte unserer Kirche immer gegeben hat, von den Anfängen her einfach schon vorprogrammiert.

Und vielleicht sind sie von Jesus Christus her ja auch durchaus so gewollt. Nur dort gibt es keine Auseinandersetzungen und keinen Streit um den rechten Weg, wo es auch keine Bewegung mehr gibt. Kirche aber ist in Bewegung. Sie ist das wandernde Gottesvolk und sie ist daher in immer wieder anderen und veränderten Situationen gezwungen, neue, der jeweiligen Situation adäquate Wege zu finden. Um diese Wege gilt es zu ringen.

Unterschiedliche Auffassungen von Anfang an

Wenn der Völkerapostel Paulus beispielsweise ganz am Anfang unserer Kirche, einfach unwidersprochen das getan hätte, was Petrus und Jakobus gefordert hatten, wenn er damals akzeptiert hätte, dass alle, die Christen werden wollten, zuerst Juden hätten werden müssen, dann wäre das Christentum vermutlich eine jüdische Sekte geblieben.

Paulus aber hat dem Petrus, wie er selbst schreibt, ins Angesicht getrotzt. Und dies war - wie wir im Nachhinein wissen - gut so. Schon von Anfang an gab es demnach ein Ringen um den richtigen Weg. Und wo Menschen miteinander ringen, dort gibt es auch Widerspruch, Machtworte und Ungehorsam.

Vom Sinn der Spannungen

Es ist eigentlich klar, dass das Amt, das stärker die Tradition zu beschützen, zu bewahren hat, von Natur aus immer etwas träger ist als die Theologen - oder auch als eine heute theologisch durchaus nicht schlecht gebildete Basis.

Dieses Kräftespiel hat es in unserer Kirche immer gegeben. Und für die Entwicklung von Kirche war es gut und nicht selten heilsam.

In der Physik braucht es zwei Pole, damit eine Spannung entsteht. Ohne Spannung bewegt sich kein Elektromotor, ohne Spannung gibt es keine Bewegung. Vielleicht ist deshalb auch so ein wenig Spannung - und damit auch so ein wenig Ungehorsam - um der Liebe und Wahrheit willen sogar notwendig. Solche Spannungen bringen nicht selten etwas voran.

Ein zeitgenössisches Beispiel

Bestes Beispiel in diesem Zusammenhang sind die Ministrantinnen. Das kirchliche Lehramt hat schließlich "Ja" dazu gesagt, als fast alle Pfarrgemeinden Mädchen als Ministrantinnen - eigentlich im Ungehorsam - schon lange eingeführt hatten. Hätten die Pfarrer das nicht vorangetrieben, wäre Rom von sich aus sicher kaum auf die Idee gekommen, Ministrantinnen einzuführen.

Es braucht solche Bewegung in der Kirche. Wir sind unterwegs, wir sind ein wanderndes Gottesvolk. Und jeder, der mitwandert, hat Verantwortung auf diesem Weg. Er ist nicht nur passives Herdentier, sondern aufgrund von Taufe und Firmung mündiges Mitglied dieser Weggemeinschaft. Von daher ist jeder einzelne gefordert und in die Pflicht genommen.

Das Gewissen als oberste Autorität

Die Kirche hat - bei all ihren Vorschriften und Anordnungen - immer akzeptiert, dass die oberste Instanz des Einzelnen nie die biblische oder kirchliche Weisung, sondern immer das eigene, mündige und geschulte Gewissen ist.

Das ist allerdings nicht gleichzusetzen mit Beliebigkeit. Es kann nicht darum gehen, einfach nur zu machen, was man will. Kirchliche Stellungnahmen und Anordnungen gilt es sehr ernst zu nehmen und nie leichtfertig mit ihnen umzugehen. Aber sie entheben mich nie meiner eigenen Entscheidung. Ich muss davon ausgehen, dass jeder Bischof, jeder Papst, das, was er schreibt, aufgrund seiner ehrlichen Sorge und Verantwortung schreibt. Trotzdem muss ich in meiner persönlichen Situation immer noch einmal selbst fragen: "Du, Jesus, wie würdest du, jetzt an meiner Stelle, handeln?" Selbst nach der Enzyklika "Humanae vitae" mit ihrem Verbot der künstlichen Empfängnisverhütung haben die deutschen Bischöfe in der "Königsteiner Erklärung" und die österreichischen Bischöfe in der "Mariatroster Erklärung" darauf hingewiesen, dass jeder im Letzten seinem eigenen Gewissensspruch verpflichtet ist.

So gilt immer noch uneingeschränkt, was uns das Buch Jesus Sirach mit auf den Lebensweg gibt - ein kleiner Abschnitt aus jener alttestamentlichen Schrift, der vielleicht ein wenig Orientierung in diesen Fragen bieten kann. Es heißt dort:

"Berate dich mit einem stets Besonnenen, von dem du weißt, dass er die Gebote hält, mit einem, dessen Herz denkt, wie dein Herz und der dir hilft, wenn du strauchelst. Doch achte auch auf den Rat deines Gewissens. Wer ist dir treuer als dieses? Das Gewissen des Menschen gibt ihm bessere Auskunft als sieben Wächter auf der Warte. Bei alledem bete zu Gott! Er wird in Treue deine Schritte lenken." (Sir 37,12-15)

(Dr. Jörg Sieger)

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