Unser Glaube

Ein Versuch zeitgemäßer Antworten


Weiter-Button Zurück-Button "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" (Ps 22,2) - Die Frage nach Leid und Tod


Eine der aller ersten Beerdigungen, die ich als Vikar zu halten hatte - drei Monate nach meiner Weihe - das war ein Zehnjähriger. Es war in Wald, im Hohenzollerischen.

Eine Viertelstunde vor der Vorabendmesse am Samstagabend - ich wollte gerade in die Kirche gehen - da rief mich eine Pfarrgemeinderätin aus einem Ortsteil an. Ich höre ihre Stimme noch heute ganz deutlich:

"Herr Vikar, mei' Bübli isch überfahre worde; er isch tot ..."

Das Kind vom Auto überfahren - vor der Hofeinfahrt zu Hause; er wollte mit dem Fahrrad Milch holen. Gepackt wurde er von einem Wagen, der mit überhöhter Geschwindigkeit vorbeifuhr: eine junge Frau, die unterwegs war zu einem Treffen mit ihrem Freund ...

Warum?

Fragen Sie mich jetzt bitte nicht: "Warum"! Wieso damals ein Kind sterben musste, wieso das Leben einer ganzen Familie von einem Tag auf den anderen verändert wurde. Und wieso eine junge Frau seit jenem Tag wohl ihres Lebens nicht mehr froh wird. Und fragen Sie mich erst recht nicht, wo Gott an diesem Abend war. Ich weiß es nicht.

Sie werden hier - mehr denn je - lediglich Meditationen über einen Abgrund von Fragen finden. Und seien Sie nicht enttäuscht, wenn dabei weit weniger Antworten sind, als Sie es sich vielleicht erhoffen.

Warum ist die Welt nicht besser? Warum gibt es all das Leid, die ganze Not, all die Verzweiflung? Wie kann all dies eine Welt prägen, von der es doch heißt, dass Gott sie gut geschaffen habe? Sieht so eine gute Welt aus?

Ist die Welt überhaupt schon fertig?

Auch wenn dieser Gedanke absonderlich sein sollte, ich selbst kann mir das Leid in unserer Welt nur so erklären: Vielleicht ist diese Welt ganz einfach nicht gut. Vielleicht ist sie noch gar nicht in dem Zustand, zu dem Gott einmal sagen wird, dass er gut ist. Und vielleicht ist das deshalb so, weil die Welt eben heute noch gar nicht fertig ist.

Vor dem Hintergrund unserer Tradition ist dies sicher ein kühner Gedanke: ein Gedanke, der allem widerspricht, was wir in der Vergangenheit gelernt haben. Schon auf der ersten Seite der Bibel steht schließlich, dass Gott die Welt geschaffen und dass er sie am siebten Tag vollendet hat. Vor allem steht doch dort, dass er sie gut geschaffen hat! Wie kann ich dann auf die Idee kommen, dass die Welt noch gar nicht fertig sein könnte?

Nehmen wir ganz einfach einmal an, dass das erste Kapitel der Bibel gar nicht der Auftakt einer dann folgerichtig erzählten Geschichte ist. Ich halte diesen Schöpfungsbericht vielmehr für so etwas wie einen Vorspann, eine Inhaltsangabe gleichsam. Die Erzählung scheint mir zu sagen: "Darum geht es im Folgenden: um die Welt, die Gott geschaffen hat, in welcher der Mensch lebt; um die Welt, die Gott zu dem Ziel führen will, von dem er selbst sagen wird: Jetzt ist alles gut! Das wird in Folgendem beschrieben."

Wir brauchen dann nur weiterzublättern. Nach diesem Bericht von der Schöpfung geht es im zweiten Kapitel der Genesis gerade noch einmal "von vorne los". Da wird noch einmal damit begonnen zu berichten, wie Gott die Welt und den Menschen schafft. Und da stellt Gott fest, dass manches ganz einfach noch nicht gut ist. Es ist zum Beispiel nicht gut, dass der Mensch allein ist.

Was für Gott schon fertig ist, muss für uns noch nicht vollendet sein

Das zweite Kapitel fängt also noch einmal "von vorne an" und schildert ganz ausführlich Gottes Werk an diesem sechsten Schöpfungstag. Und nirgendwo wird jetzt davon berichtet, dass dieser Tag schon zu Ende ist.

Für Gott ist dieser Tag natürlich schon "zu Ende". Er steht schließlich über der Zeit. Er betrachtet von seiner Warte aus das ganze Schöpfungsgeschehen auf einmal.

Aber wir stehen mitten in der Zeit und wir stehen somit offensichtlich immer noch am sechsten Schöpfungstag. Von uns aus gesehen ist die Welt noch gar nicht fertig. Wir müssen sie erst fertig stellen. Gott will sie allem Anschein nach mit uns zusammen zur Vollendung bringen.

Der Mensch als "Mitschöpfer"

Der biblische Bericht schildert dieses Mitwirken des Menschen im Bild folgendermaßen: Gott nimmt den Menschen beiseite und führt ihm die Tiere vor. Und der Mensch benennt die Tiere mit Namen.

Namensgebung bei den Orientalen ist aber immer etwas Besonderes. Wenn man jemandem einen Namen gibt, dann gibt man ihm nicht nur eine Bezeichnung. Für den Orientalen ist der Name die Umschreibung des Wesens. Der Name des jeweiligen Tiers umschreibt, welche Rolle es spielen soll. Gott legt mit dem Menschen zusammen den jeweiligen Platz eines Geschöpfes in seiner Schöpfung fest. Er tut dies mit dem Menschen gemeinsam. Er macht den Menschen zum "Concreator", zum "Mitschöpfer".

Das will nichts anderes sagen als, dass Gott die Welt mit uns zusammen fertig bauen will.

Gott "baut" mit dem Menschen

An dieser Stelle fällt mir das Bild von Eltern mit ihrem kleinen Kind ein - ein Vater etwa, der mit seinem Kind zusammen baut: eine Burg im Sand, ein Haus aus Plastiksteinen ...

Ich erinnere mich noch gut daran: Ein solches Haus bedeutete für mich als Kind weit mehr, als ein Teil, das ich auf einmal - schon fertig - geschenkt bekommen habe.

Gott baut mit uns gemeinsam. Er schenkt uns nicht einfach das fertige Ergebnis, er stellt es mit uns zusammen her.

Vom Wert der Dinge

Das hat, denke ich, seinen ganz tiefen Sinn. Und es gibt für mich ein Erlebnis in meinem Leben, das mir den Sinn dieses Unterfangens ganz deutlich aufschließt.

Ich hatte als Kind vier große LEGO-Räder: genau vier große Räder - mehr nicht. Und ich brauchte diese vier, um einen Lastwagen zu bauen. Und ich hütete sie deshalb wie meinen Augapfel. Was hätte ich mit drei Rädern anfangen sollen, wenn ich einen Lastwagen bauen wollte ...?

Meine Mutter hat letzthin auf dem Sperrmüll einen ganzen Müllsack voller LEGO-Steine gefunden. Irgend jemand hatte ihn weggeworfen. Meine Mutter nahm ihn mit und schenkte ihn meinem kleinen Neffen - alle Steine auf einmal. Und als ich vor einiger Zeit bei meinem Neffen zu Besuch war, da fand ich doch vor der Terrassentür draußen im Dreck ein großes LEGO-Rad.

Mein Neffe hatte so viele Räder auf einmal bekommen, dass er gar nicht ermessen konnte, was für einen Schatz er hier achtlos liegen ließ!

Ein Weg, die Dinge schätzen zu lernen

Gott will, dass wir nicht achtlos an das Leben herangehen, das er uns schenken will. Er baut die Welt mit uns gemeinsam zu Ende. Und vielleicht muss er das tun. Vielleicht ist genau das der Weg, auf dem wir die Dinge, die er uns schenkt, erst schätzen lernen. Vielleicht können wir nur dann, wenn wir all diese Mühe erlebt haben, das Leben wirklich schätzen.

Wüsste ich denn die Gesundheit wirklich zu schätzen, wenn ich nicht schon einmal krank gewesen wäre? Wüsste ich, Glück richtig einzuordnen, ohne dass ich erlebt hätte, was es heißt, unglücklich, ungeliebt, verachtet zu sein?

Bilder von einem langweiligen Himmel

Nicht umsonst geraten viele Schilderungen vom Himmel zu Zerrbildern tödlicher Langeweile. Wir tun uns unsäglich schwer, ewiges Glück, wirkliche Glückseligkeit packend zu schildern. Da kommen mir Bilder vom zähen Ringelreihen im Garten aus dem Mittelalter in den Sinn oder das furchtbare Zerrbild von Aloysius, dem "Münchener im Himmel", der in furchtbarer Langeweile auf der Wolke "Hosianna" singen muss.

Wenn wir uns schon so schwer damit tun, die ewige Glückseligkeit zu schildern, wie furchtbar müsste es für uns sein, einfach in sie hineingesetzt zu werden, ohne ihren Wert überhaupt ermessen zu können!

Unterwegs zum siebten Tag

Vielleicht geht es gar nicht anders, als dass wir uns die Ruhe des siebten Schöpfungstages mit viel Mühe, viel Schweiß und sehr viel Leid erarbeiten müssen: Vielleicht können wir nur so wirklich ermessen, was sie für uns bedeutet. Vielleicht ist dies der tiefere Sinn dahinter, dass Gott selbst in Jesus Christus durch das Leiden zur Auferstehung ging - um uns zu zeigen, dass dies wirklich der einzige gangbare Weg ist.

Wir sind erst unterwegs, hin zum siebten Tag der Schöpfung, an dem alles gut sein wird. Wir leben demnach jetzt noch in einer Welt, die unter Geburtswehen ächzt und stöhnt, wie der Apostel Paulus schreibt (vgl. Röm 8,22).

Eine zweite Schwangerschaft

Mir erscheint dieses Leben deshalb manchmal wie eine zweite Schwangerschaft - so verrückt das auch klingen mag. In der ersten Schwangerschaft wurde jeder von uns zu einer unverwechselbaren Person - jeder für sich. In diesem Leben reifen wir zu Persönlichkeiten heran, die lernen, in Gemeinschaft zu arbeiten, und zu leben. Und wir lernen vor allem zu schätzen, was es heißt, mit anderen Menschen zusammen Glück zu erfahren. Wie sollte ich sonst das himmlische Hochzeitsfest als Glückseligkeit erfahren, wenn ich nie gelernt habe, mit anderen Menschen zusammen glücklich zu sein?

Angeld der zukünftigen Glückseligkeit

So ist das bisschen Glück, das wir hier erleben dürfen - und das sich doch so wenig festhalten lässt -, für mich so etwas wie das Aufleuchten dieser zukünftigen Herrlichkeit schon in diesem Leben. Es ist, als ob ab und an die Glückseligkeit, auf die wir zugehen und die uns nach diesem Leben erfüllen wird, schon in der jetzigen Zeit aufleuchten würde.

So gesehen ist für den Zehnjährigen, den ich damals beerdigen musste - und damit tröste ich mich in meiner Kammer ganz für mich allein - sein eigener Tod vielleicht gar nicht so schlimm. Schlimm ist zu sterben, dies aber bedeutet - wie Paulus es sagen würde - nichts im Vergleich zu der künftigen Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll.

Angst vor dem Sterben

Dass wir Angst vor diesem Übergang haben, und dass wir diesen Weg in die neue Wirklichkeit nur ungern antreten, das ist verständlich. Wenn ich dieses Leben mit einer zweiten Schwangerschaft verglichen habe, dann ist das Sterben wie das Geboren-Werden. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass ein ungeborenes Kind gerne geboren wird! Zum Glück erinnern wir uns alle nicht mehr an diese Tortur. Wenn das ungeborene Kind auch nur entfernt ahnen würde, was da auf es zukommt, dann hätte es sicher nicht weniger Angst davor, geboren zu werden, als wir vor dem zweiten Geboren-Werden, vor dem Sterben.

Die Trauer der Zurückgebliebenen

Schlimm und schrecklich ist der Tod eines Menschen vor allem für die, die zurückbleiben - die diesen Menschen nun vermissen, die trauern, die mit dem Loch, das er reißt, nun leben müssen, die durch den Tod eines lieben Menschen wieder neu darauf geworfen sind, dass das Leben etwas Vorläufiges ist.

Und wahrscheinlich gibt es im Leben nichts Schlimmeres, als die Leere dieser Erfahrung auszuhalten. Im Augenblick des Erlebens dieser Leere ist der Blick auf das zukünftige Wiedervereintsein in der Herrlichkeit des siebten Schöpfungstages nur ein schwacher Trost.

Wut und Zorn

Ich kann verstehen, dass Menschen wütend werden und von billiger Vertröstung sprechen, wenn man sie gerade in dieser Situation, mit gut gemeinten frommen Sprüchen zu trösten versucht. Ich kann verstehen, dass sie am liebsten ihren Gott packen würden, dass sie ihm die ganze Wut und Verzweiflung ins Gesicht brüllen möchten.

Ich kann es gut verstehen, weil es mir selbst oft genau so geht. Und ich kann jeden, der sich in dieser Situation wiederfindet, nur dazu ermutigen: Schreien Sie diesem Gott ruhig alles ins Gesicht. Bringen Sie all Ihre Wut und Verzweiflung vor Ihren Gott. Wir dürfen es nämlich tun! Gerade weil Gott uns offensichtlich so wenig Antworten gibt, hat er vollstes Verständnis dafür, wenn wir ihn manchmal packen und schütteln wollen.

Mit Gott ringen

Fressen Sie Ihre Verzweiflung unter keinen Umständen in sich hinein. Und versuchen Sie erst recht nicht, alleine damit fertig zu werden. Auch wenn wir die Antworten vielleicht nie bekommen, auch wenn wir nach allem Suchen, keinen Sinn dahinter sehen können: wenn wir mit diesem Gott streiten, mit ihm ringen - alles, nur nicht von ihm lassen -, dürfen wir sicher sein, dass er uns auch durch diese Täler hindurchhelfen wird.

Gott ist der Gott, der dem Jakob den Namen Israel gegeben hat, weil dieser Jakob mit seinem Gott gerungen hat - das bedeutet der Name Israel. Es gilt, mit diesem Gott zu ringen - ein Leben lang.

Vielleicht können wir dann auch entdecken, was Dietrich Bonhoeffer in seinem Glaubensbekenntnis niedergeschrieben hat:

"Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage soviel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen."  (Dietrich Bonhoeffer, Ich glaube..., zitiert in: Christiane Olbrich (Hrsg.), Schenk Dir Zeit (Karlsruhe 1988) 69)

Spielball des Schicksals?

Irgendwo in meinem Innersten glaube ich ganz fest daran, dass ich trotz allem Unverständnis und trotz aller Fragen, die bleiben, nie von Gott verlassen bin, wenn ich mich wirklich auf ihn verlasse.

Dieser Glaube hilft mir auch im Blick auf jenen Zehnjährigen, der so unsinnig aus dem Leben gerissen wurde. Und er hilft mir auch, wenn Menschen fragen: Was ist denn nun mit all den Möglichkeiten, derer dieses Kind nun beraubt wurde? Was alles an Leben ist ihm vorenthalten worden? Was hätte er noch alles erleben können?

Obschon ich diese Fragen verstehe und manchmal auch selber habe, bin ich trotzdem davon überzeugt - und das ist eines der wenigen Dinge, von denen ich wirklich felsenfest überzeugt bin: Niemand stirbt vor der Zeit. Wenn ich sterbe - und egal in welchem Alter -, dann ist das meine Zeit. Dann gibt es keine Möglichkeiten und nichts, was ich verpassen könnte.

Gott macht mich nicht zum Spielball eines Zufalls. Und selbst, wenn ich durch die Unachtsamkeit oder die Böswilligkeit eines anderen ums Leben komme, dann ist dies die Stunde, die für mich die richtige ist.

Dass Gott dann sagen würde: "Dies oder jenes hättest Du noch vollbringen müssen, aber dieser bedauerliche Unfall ist Dir jetzt leider dazwischen gekommen - Pech gehabt!" - so zu denken, ist für mich eine Unmöglichkeit.

Ganz im Gegenteil. Gott macht mich nicht zum Spielball - nicht des Schicksals und auch nicht anderer Menschen.

Gott ist meine Zukunft

Bei all den Fragen, auf die ich keine Antwort habe, weiß ich dennoch eines sicher: Wenn ich mich an Gott halte, dann bin ich in seiner Hand. Auch wenn ich ihn selten verstehe, auch wenn ich mich manchmal frage, warum Menschen so viel leiden müssen, und auch, wenn ich manchmal schon beinahe daran verzweifle, dass es so manchem "gottlosen Lump" augenscheinlich so gut geht - eines weiß ich: Mein Weg ist der Weg, den Gott für mich als gut erachtet. Und selbst wenn es ein Leidensweg ist, er führt zum Heil. Und Gott geht diesen Weg mit mir. Er ist mein Weg, mein Geleiter und mein Ziel.

"Ich (...) bleibe immer bei dir, du hältst mich an meiner Rechten. Du leitest mich nach deinem Ratschluss und nimmst mich am Ende auf in Herrlichkeit. (...) Auch wenn mein Leib und mein Herz verschmachten, Gott ist der Fels meines Herzens und mein Anteil auf ewig. (...) Gott nahe zu sein ist mein Glück." (Ps 73,23-24.26.28)

(Dr. Jörg Sieger)

Unser Glaube - Ein Versuch zeitgemäßer Antworten

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