Die Bibel

Entstehung, Gedankenwelt, Theologie ...


Weiter-ButtonZurück-Button Werde-Geschichten im Alten Testament

Was aber lehrt nun die Schrift, und in unserem Fall das Alte Testament, über das, was für unser Heil wichtig ist?

Fangen wir am Besten am Anfang an. Und dieser Anfang ist, gut Hebräisch gedacht, jetzt nicht etwa die Schöpfung. Der Anfang ist immer das, was uns am nächsten ist. Und das sind schlicht und ergreifend zuerst einmal wir selbst.

Fragen wir also zuerst einmal danach, was das Alte Testament über uns, über den Menschen sagt. Versuchen wir das Menschenbild des Alten Testamentes zu erheben. ⋅1⋅

Damit beginnt im übrigen auch die Bibel. Etwa seit der Zeit um das Jahr 500 v. Chr. findet sich ganz am Anfang der Bibel gleichsam eine umfassende Antwort auf die Frage nach dem Menschen.

Man wird hier einwenden: Ganz am Anfang des Alten Testamentes steht aber der Schöpfungsbericht; also beginnen wir doch mit der Schöpfung.

Das stimmt und stimmt auch wieder nicht. Der Schöpfungsbericht will ja nicht in erster Linie die Erschaffung der Welt schildern. Der Schöpfungsbericht ist eine klassische Werde-Geschichte.

Und Werde-Geschichten erzählt der Hebräer immer dann, wenn er vom Wesen einer Sache berichten möchte.

Dafür gibt es in der Schrift eine Fülle von Beispielen. Eines, an dem man die Funktion solcher Werde-Erzählungen ganz gut ablesen kann, ist das Beispiel des Tempels in Jerusalem.

1. Der Bau des Tempels anstelle einer Zustands-Beschreibung

Dem biblischen Autor kam es nämlich absolut nicht in den Sinn, die Dimensionen des Tempels in Jerusalem und den Zustand seiner einzelnen Räume rein sachlich zu schildern. Die Bibel bietet uns keine Zustandsbeschreibung des Tempels. Sie schildert uns vielmehr, wie dieser Tempel gebaut worden ist:

"Der Tempel, den der König Salomo für Jahwe erbaute, war sechzig Ellen lang und zwanzig Ellen hoch. Die Halle vor dem Hauptraum war zwanzig Ellen lang, der Breitseite des Tempels vorgelegt, zehn Ellen breit, in der Längsrichtung des Tempels. Er brachte am Tempel Fenster mit Rahmen und Gitterwerk an. An der Wand des Tempels brachte er einen Anbau an, um den Hauptraum und den Hinterraum, und richtete so ringsum Seitengemächer ein." (1 Kön 6,2-5.)

Der biblische Autor schildert also, wie der Tempel geworden ist. Und mit dieser Schilderung sagt er gleichzeitig, wie er nun ist.

2. "Sein" und "Werden" im Hebräischen

Diese Art zu Denken macht uns schon die hebräische Sprache deutlich. Es gibt etwa kein eigenes Wort für den deutschen Begriff "Wesen". Und auch das deutsche Wort "sein" ist im Hebräischen weit vielschichtiger als in unserer Sprache. Es bezeichnet eigentlich nie bloß einen Zustand.

Das Wort היה ["hajah"], das dem deutschen Wort "sein" entspricht, enthält vielmehr eine Dynamik. Es bedeutet "sein" und "werden" in gleichem Maße. היה ["hajah"] bezeichnet demnach immer auch ein Geschehen.

Das Werden einer Sache und das Sein einer Sache sind für den Hebräer strenggenommen, wie die beiden Seiten einer Medaille. Werden und Sein, Wesen und Werden kann ich im Hebräischen nicht auseinandernehmen.

3. Der Schöpfungsbericht als Werde-Geschichte

Dementsprechend ist es nicht verwunderlich, dass uns die Bibel keine katechismusartige Wesensdefinition der Welt und des Menschen gibt. Sie schildert uns zu Beginn vielmehr ganz einfach in der Weise einer Erzählung das Werden der Welt und das Werden des אָדָם [">adam"]. Genau damit aber will die Schrift auf die Fragen "Was bedeutet für uns diese Welt?" und "Was ist der Mensch?" antworten.

Im Blick auf den Menschen handelt sie dabei - und das ist wichtig zu wissen - von dem einzelnen Menschen genauso, wie von der Menschheit im Allgemeinen. Denn das Wort אָדָם [">adam"] ist ja bekanntermaßen alles andere als ein Name. Der אָדָם [">adam"], das ist der, der von der אֲדָמָה [">adamah"], also vom Erdboden, vom Ackerboden, stammt, der "Erdling" also; und damit der einzelne Mensch genauso wie die Menschheit als Ganze.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkung

1 Vgl. zu diesem Abschnitt: Alfons Deissler, Wer bist Du Mensch? (Freiburg 1985) 11-16. Zur Anmerkung Button