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Weiter-ButtonZurück-Button Die Kanonkriterien der frühen Kirche ⋅1⋅

Fassen wir die Kriterien nach denen die Alte Kirche die Schriften des Neuen Testamentes beurteilt hat, so wie sie sich in den Schriften der Kirchenväter finden, im einzelnen noch einmal zusammen.

1. Die Kriterien im einzelnen

  • Zum einen ging es um die Apostolizität einer Schrift. Hohes Alter und Augenzeugen mussten den Schriften zugrunde liegen.
  • Das zweite Kriterium war die Übereinstimmung mit der rechten Tradition. Es ging dabei also um kirchliche und dogmatische Orthodoxie.
  • Aber die Schriften mussten genauso mit der Lehre des Alten Testamentes übereinstimmen. Hier durfte in wesentlichen Fragen kein Dissens auftreten.
  • Darüber hinaus musste sich die Schrift an die ganze Kirche wenden. Es durfte kein Schreiben von lediglich privatem Interesse sein.
  • Sie musste ebenso verständlich und nicht nur für Eingeweihte verfasst worden sein. Es durfte sich um keine wilden Phantastereien handeln.
  • Wichtig war auch, dass die Schrift erbaulich, nützlich und in der Gegenwart brauchbar war.
  • Und natürlich musste sie vom Geist Gottes inspiriert sein.
  • Hinweise darauf waren, dass die Schriften in den apostolischen Kirchen, also den Gemeinden mit langer apostolischer Tradition bezeugt waren. Sie mussten von alten Vätern zitiert oder von ihnen gebilligt worden sein.
  • Die Schriften mussten außerdem in der ganzen Kirche anerkannt sein. Dies äußerte sich in der Zulassung zur öffentlichen Lesung im Gottesdienst.
  • Und das konnten sie ja nur sein, wenn sie auch amtlich approbiert waren.

In diesen Kriterien zeigt sich einerseits, welches Bild die Alte Kirche von ihren heiligen Schriften hatte. Andererseits zeigt sich auch, welch hoher Anspruch an diese Schriften gelegt wurde. Vor allem im 2. Jahrhundert n. Chr. wurden die einzelnen Bücher, die zur Debatte standen, einer scharfen Prüfung unterzogen und auf dem Hintergrund dieser Kriterien intensiv diskutiert.

2. Die Kriterien geordnet

Wenn wir diese Kriterien in eine gewisse Ordnung bringen möchten, dann kann man sie - grob gesagt - in drei große Gruppen einordnen.

  • Wir haben einerseits Eigenschaften die den jeweiligen Schriften selbst anhaften. Dies wären die sogenannten äußeren Kanonkriterien.
    Dazu zählen u. a. die Apostolizität, das hohe Alter, die apostolische Approbation, die geschichtliche Zuverlässigkeit, die Katholizität, die Übereinstimmung mit dem Alten Testament, sowie erbauliche, nützliche und lehrende Funktion des Textes und seine Verständlichkeit.
  • Dann geht es um die Normativität, also die normativen Eigenschaften der jeweiligen Schriften.
    Dazu zählt vor allem, dass die Schrift ihre Autorität von Gott hat. Sie ist inspirierte Schrift. Die Verfasser der jeweiligen Texte mussten demnach auch prophetische und inspirierte Schriftsteller sein. Was diese Kriterien angeht, konnte die Kirche lediglich ihre Glaubenserfahrung als Bewertungsgrundlage anlegen.
  • Die dritte Gruppe von Kriterien blickt auf den Umgang der Kirche mit den Schriften, es geht hier um die Rezeption der jeweiligen Schrift.
    Hier ist in erster Linie die Rezeption in der Kirche zu nennen, d. h. wie der jeweilige Text beurteilt wurde, etwa was seine Eignung anging, im Gottesdienst verlesen zu werden. Auch die faktische Anerkennung einer Schrift durch Synoden und Konzilien war hier wichtig.

Die Alte Kirche hat von all diesen Kriterien die Apostolizität am stärksten betont. Ihr ging es damit letztlich um die Ur-Kirchlichkeit einer Schrift. Wichtig war also nicht so sehr die tatsächliche Verfasserschaft durch einen Apostel, also nicht die literarische Authentizität. Unter Apostolizität verstand man vorab die sachliche Qualität eines Textes:

  • Seine zeitliche Dimension - Die Schrift muss aus der frühen Zeit stammen.
  • Seine inhaltliche Qualität - Der Text musste übereinstimmen mit der urchristlichen Überlieferung.
  • Seine personale Dimension - Er musste eine altkirchliche Autorität zum Urheber haben.
  • Und seine funktionellen Eigenschaften - Der Text musste aufbauenden Charakter haben.

Karl Rahner hat für diese Kriterien den Begriff Ur-Kirchlichkeit geprägt. Damit erreicht er alle diese Dimensionen. Die Schriften des Neuen Testamentes zeichnen sich nach Rahner demnach dadurch aus, dass sie Kern der Kirche sind, aus früher Zeit, von einem apostolischen Verfasser stammen und zum Aufbau der Kirche beitragen.

Insgesamt ist die Rezeption der 27 neutestamentlichen Schriften, also der Vorgang der Kanonbildung, ein kirchlich-geschichtlich-geistlicher Prozess. Dabei wurde die Zugehörigkeit einer Schrift zum Kanon auf die Schrift selbst und ihre Eigenschaften gegründet. Die Kirche war bei diesem Prozess nie die bestimmende Größe. Sie war lediglich der Unterscheidungsfaktor.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkung

1 Wo nicht anders vermerkt folge ich meinem Lehrer Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.). Zur Anmerkung Button