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Weiter-ButtonZurück-Button Der Kolosserbrief ⋅1⋅

Zu den älteren Deuteropaulinen, also jenen Briefen, die in der Tradition des Paulus geschrieben wurden, aber nicht mehr von ihm selber stammen, zählen nun der Kolosser-, der Epheser- und der 2. Thessalonicherbrief. Die Einheitlichkeit der Briefe ist im wesentlichen unbestritten. Diskutiert wird beim ein oder anderen Schreiben lediglich die Frage nach der Echtheit.

Schauen wir uns zunächst den Kolosserbrief an.

1. Die Adressaten

Als Absender werden Paulus und Timotheus (Kol 1,1) genannt, die an die "Heiligen in Kolossae" und die gläubigen Brüder in Christus (Kol 1,2) schreiben.

Kolossae liegt in der heutigen Türkei, in der Nähe von Laodicea und Hierapolis im Südwesten Phrygiens, am oberen Lykos. Die Stadt war zwar durch sehr gute Straßenverbindungen in Richtung Sardes und Ephesus bzw. Tarsus mit wichtigen Zentren der damaligen Welt verbunden, doch war Kolossae im 1. Jahrhundert n. Chr. eher eine unbedeutende kleine Stadt.

Paulus selbst war nie dort gewesen (vgl. Kol 2,1 und die Apostelgeschichte) und kannte die Gemeinde nicht. Kol 1,4 und Kol 1,8-9 machen deutlich, dass Paulus die Gemeinde auch nur vom Hörensagen kannte und keine unmittelbare Beziehung zu ihr hatte. Paulus hat sein Wirken ja auf die Zentren konzentriert und die Mission in der Umgegend seinen Mitarbeitern überlassen.

So hat auch der Paulusschüler Epaphras (Kol 1,7-8; Phlm 23), der während der 3. Missionsreise in die Nähe des Paulus gehörte und einmal als Mitgefangener Pauli bezeichnet wird, im oberen Lykostal missioniert und die Gemeinde gegründet.

Epaphras wird als Sklave und Diener Christi vorgestellt, also als mit ähnlicher apostolischer Autorität, wie sie auch dem Paulus eignete, ausgestattet.

Interessant ist der Hinweis in Kol 4,17, der Archippus als Nachfolger des Epaphras in der Gemeindeleitung nennt. Daraus kann man nun schließen, dass wir uns zur Zeit des Kolosserbriefes schon nicht mehr in der ersten Generation befinden. Es besteht schon ein gewisser zeitlicher Abstand zur Gemeindegründung.

Dass die Gemeinde überwiegend aus Heidenchristen bestand, lässt nun Kol 1,21; Kol 2,13 und Kol 3,6 vermuten.

2. Auffälligkeiten

Wenn wir uns nun den Kolosserbrief genauer ansehen, dann fällt schon beim kursorischen Lesen auf, dass er viel stärker lehrhaften Charakter hat, als die bisher betrachteten Paulusbriefe. Vor allem das Fehlen der Anreden, die Paulus sonst immer gebraucht, ist merkwürdig. Man kann dies nicht damit erklären, dass Paulus die Gemeinde ja nicht gekannt hätte. Beim Römerbrief war dies ja auch nicht der Fall.

Im Mittelpunkt des Briefes steht eine Auseinandersetzung mit einer Irrlehre. Sie scheint weit über Kolossae hinaus verbreitet gewesen zu sein. So ist der Brief auch auffallend allgemein gehalten. Es werden keinerlei spezifische Gemeindeprobleme zur Sprache gebracht. Von daher hat man verschiedentlich gefragt, ob das Schreiben tatsächlich an eine einzelne Gemeinde gerichtet gewesen ist, ob also Kolossae tatsächlich ursprünglich Adressat des Briefes war oder ob dieser Brief nicht vielmehr an ein ganzes Kirchengebiet gerichtet war. Die Adressatenangabe wäre dann später hinzugefügt worden.

3. Die Briefsituation

Welche Situation wird für den Brief nun vorausgesetzt?

Es wird von einem Leiden des Apostels berichtet (Kol 1,24), und dass er sich fern von der Gemeinde aufhalten muss (Kol 2,5). In Kol 4,3 bittet er um das Gebet der Gläubigen. Kol 4,10 und Kol 4,18 machen deutlich, dass er sich in Gefangenschaft befindet, woher der Brief auch seine Klassifizierung als Gefangenschaftsbrief hat.

Als Briefüberbringer wird ein gewisser Tychikus genannt (Kol 4,7-8; vgl. Apg 20,4), was der Angabe in Eph 6,21 entspricht. Tychikus begegnet auch in 2 Tim 4,12 und Tit 3,12 und wird in Kol 4,9 zusammen mit Onesimus genannt. In Kol 4,10ff werden dann weitere Mitarbeiter des Paulus angeführt, die Grüße ausrichten lassen, darunter auch Lukas, der Arzt.

Auffallend sind die Grüße an weitere Adressaten, nämlich an Leute in Laodicea. Von Kolossae aus sollte der Brief nämlich dorthin gebracht werden, wie Kol 4,16 berichtet wird. Auch dies wirft die Frage auf, ob der Brief nicht etwa von vornherein für mehrere Gemeinden gleichzeitig bestimmt war.

Merkwürdig ist, dass im Kolosserbrief eine ganze Reihe von Paulusschülern stark in den Vordergrund treten (z. B. ab Kol 4,9). Von Paulus selbst ist hingegen kaum etwas gesagt. Die wenigen Aussagen, die über ihn gemacht werden, muten darüber hinaus seltsam schematisch an.

So lässt sich auch der Anlass des Schreibens nicht konkret ausmachen. Lediglich, dass in Kleinasien, wie bereits erwähnt, eine Häresie um sich gegriffen haben muss, lässt sich erheben. Demnach kann man den Zweck des Schreibens ganz allgemein damit angeben, die Gemeinden - zumindest die von Kolossae und Laodicea - gegen diese Häresie gleichsam zu immunisieren und dieselbe zu bekämpfen.

4. Inhalt

Sehen wir uns daraufhin den Aufbau des Schreibens etwas genauer an.

a. Kol 1,1-1,29: Grundlegung der Gemeinde durch Paulus und Ephaphras

Der Brief schildert in Kol 1,1-1,29 die Grundlegung der Gemeinde durch Paulus und Epaphras.

Kol 1,1-2
Präskript.
Kol 1,3-8
Danksagung.
Kol 1,9-1
Fürbitte für die Angeschriebenen (Erkenntnis des Willens Gottes, Weisheit, Geistige Einsicht; dies weist auf eine besondere Gefährdung hin).
Kol 1,12-14
Aufforderung zum Dank in Erinnerung an die Taufe - Übergang zum Hymnus.
Kol 1,15-20
Kolosserrhymnus; Bekenntnislied der dortigen Gemeinden.
Kol 1,21-23
Auslegung des Hymnus auf die Gemeinde hin.
Kol 1,24-29
"Paulus" redet von sich selbst. Ein Paulusbild wird entworfen: Märtyrer, Völkerapostel und Seelsorger der Ökumene.

b. Kol 2,1-2,19: Kampf gegen Irrlehrer

In Kol 2,1-2,19 wird nun der Kampf gegen die Irrlehrer geführt. Wie Kol 2,16-19 zu erkennen geben, hat man es wohl mit einer Irrlehre jüdischer Provenienz zu tun.

Kol 2,1-3
Überleitung zur Auseinandersetzung mit der Häresie.
Kol 2,4-7
Warnung vor Agitation von Glaubensverfälschern. Mahnung; wichtiges Stichwort: "Überlieferung der Apostel" (typisch für die nachapostolische Zeit, vgl. Pastoralbriefe).
Kol 2,8-15
Auseinandersetzung mit der Irrlehre (Rückgriff auf den Hymnus); Irrlehre scheint an kosmischer Spekulation orientiert zu sein.
Kol 2,16-19
Konkrete Forderungen von Irrlehrern zurückgewiesen (Speise- und Tabugebote, vgl. den Galaterbrief); gegen Bindung an neue Regeln: Feste, Neumonde und Sabbatte, d. h.: man hat es mit einer Irrlehre jüdischer Provenienz zu tun.

c. Kol 2,20-4,6: Mahnungen

In Kol 2,20-4,6 folgen dann einzelne mehr oder minder konkrete Mahnungen.

Kol 2,20-23
Mahnungen / Paränese.
Kol 3,1-4
Mit Christus sind wird in der Taufe auferweckt, frei von Knechtschaft der Regeln, Gesetze und kosmischen Mächte. Dies ist eine wichtige Stelle auch in der Theologie. Sie weicht von der paulinischen Theologie ab (vgl.: In der Taufe sind wir mit Christus gestorben: starkes zeitliches Denken in räumliches Denken verschoben).
Kol 3,5-11
Mahnung: Überwindung des alten Menschen.
Kol 3,12-17
Anziehen des neuen Menschen in der Kirche.
Kol 3,18-4,1
Haustafel: Die Stände der Gemeinde werden ermahnt.
Kol 4,2-6
Aufforderung zum Gebet.

d. Kol 4,7-4,18: Briefschluss

Und in Kol 4,7-4,18 liegt dann der Briefschluss vor.

Kol 4,7-17
Sogenannte Personalnotizen.
Kol 4,7-9:
Sendung des Tychikus und Onesimus.
Kol 4,10-14:
Grußlisten.
Kol 4,15-17:
Erwähnung anderer Gemeinden.
Kol 4,18
Gruß und Segenswunsch.

5. Grundlegende Themen des Kolosserbriefes

Was sind nun die grundlegenden Themen des Kolosserbriefes? Wie kann man die Theologie dieses Schreibens kurz umreißen?

a. Christologie

Wenn wir auf die Christologie des Kolosserbriefes blicken, dann wird bereits deutlich, dass wir uns hier auf einer weiter entwickelten Stufe befinden, als sie uns in den sogenannten echten Paulinen begegnet. Im Kolosserbrief ist Christus vorab

  • der universale Erlöser,
  • er ist das Bild des unsichtbaren Gottes (vgl. Hymnus),
  • ist Schöpfungsmittler,
  • Erstgeborener von den Toten,
  • Anfang der mit Gott versöhnten Welt,
  • Haupt über jede (auch kosmische) Macht,
  • Herr der Kirche und jedes Christen,

also schlichtweg der universale Erlöser von Kosmos und Menschheit in der Herrschaft über seine Kirche. Hier ist deutlich zu spüren, dass wir uns auf einer anderen Ebene der christologischen Reflexion bewegen. Die für Paulus so wichtigen Fragen des in, durch und mit Christus Seins spielen hier kaum noch eine Rolle.

b. Ekklesiologie

In Bezug auf die Ekklesiologie spricht der Kolosserbrief auch eine andere Sprache als die paulinischen Schreiben, die wir bisher betrachtet haben. Während Paulus vor allem die Ortsgemeinde im Blick hatte, spricht dieser Text von einer ökumenischen, katholischen, also weltweiten Kirche. Der Akzent liegt hier also bereits auf der Großkirche.

In dieser Kirche sind Versöhnung und Frieden, die von Jesus Christus herkommen, präsent.

Paulus wird als Völkermissionar zum Vorbild und Typus dieser Kirche, die weltweite Mission betreibt.

c. Soteriologie

Inhalt dieser Missionspredigt der Kirche ist die Erlösung, die Christus gebracht hat. Sie wird realiter erfahrbar als Vergebung der Sünden.

Durch Vergebung der Sünden wird der Überschritt von der Finsternis zum Licht ermöglicht. Hier sind Anklänge an die johanneische Theologie spürbar.

Die Kirche als Ganze, als eine Kirche aus Juden und Heiden, geht der Vollendung in der Parusie entgegen. Diese Heilsvollendung ist der Kirche gewiss zugesichert, denn das Heilsgut liegt oben, im Himmel, schon vollendet bereit. Dort wohnt Christus als Herr der Kirche.

d. Mahnung zur Realisierung der Taufe

Dadurch ist der Mensch also bereits erlöst. Aber als erlöster Mensch kann und soll er auch wirklich zum Ebenbild Gottes werden und somit die Schöpfungsidentität wiederherstellen. Dies geschieht vor allem durch die Einbindung des Menschen in die universale Kirche.

e. Gegen Häresie

Die Kirche wiederum muss am überlieferten Evangelium, an dem von den Aposteln - und ganz besonders natürlich von Paulus - her Überlieferten, festhalten.

Diese Überlieferung, ist in der Darstellung des Kolosserbriefes, nun aber nicht mehr nur die mündlich weitergegebene Botschaft der Apostel. Im Kolosserbrief spürt man, dass bereits an die schriftlich vorliegende Überlieferung gedacht wird (Kol 1,5). Im Horizont der Paulusschule sind dies mit Sicherheit nicht zuletzt die schriftlich überlieferten Paulusbriefe.

6. Echtheit oder Unechtheit

So bleibt der Brief insgesamt im Rahmen paulinischen Denkes. Er weist aber einige charakteristische Abweichungen auf. So zeugt er von einer Weiterentwicklung und Abwandlung der paulinischen Theologie und schließlich auch vom Aufgreifen anderer Traditionen:

Paulus konzentrierte seinen Blick auf den Sühnetod Christi, der Kolosserbrief gibt Christus als den Allherrscher über Kosmos und Kirche wieder.

Paulus meint unter dem Begriff ἐκκλησία ["ekklæsía"] immer wieder die Einzelgemeinde, die er als Leib Christi interpretiert. Der Kolosserbrief versteht darunter die Gesamtkirche. Er blickt also schon über Paulus hinaus.

Wenn Paulus in Röm 6 auf die Auferstehung blickt, dann gebraucht er zeitliche Kategorien. Er spricht von jetzt und dann. In Kol 3 geht es immer wieder um räumliche Kategorien, um oben und unten. Wir haben also einen Umschwung in der Terminologie von "jetzt und dann" zu "unten und oben" vorliegen.

Auffallend ist auch, dass Paulus vor allem auf das rechtfertigende Handeln Gottes schaut, und dies vorzüglich unter dem Aspekt des Vertrauens. Ihm geht es demnach vor allem um die fides qua, um den Glauben als Vollzug. Der Kolosserbrief hat hingegen vorab die fides quae im Blick. Ihm geht es um Glaubensinhalte, um die authentische Glaubensüberlieferung. So greift der Kolosserbrief gegen die Häresie, die er bekämpft, Traditionen aus der griechischen Synagoge auf. Daneben benutzt er auch Traditionen, die sonst nur in der Apokalyptik und der Theologie einzelner Qumranschriften aufzufinden sind. Dies wird vor allem im Kolosser-Hymnus, in der räumlichen Eschatologie und auch in der Verwendung von Haustafeln deutlich.

Auch die Sprache des Briefes ist eine ganz andere als die des Paulus in den bislang betrachteten Schreiben. Insgesamt kommen im Kolosserbrief 34 Hapax legomena, also 34 Worte, die nur ein einziges Mal in der Schrift verwendet werden, vor. Darüber hinaus werden 28 Begriffe und Wendungen gebraucht, die für den Kolosserbrief charakteristisch sind, von Paulus selbst allerdings nie verwendet werden. Andererseits tauchen Begriffe, die für Paulus ganz zentral sind, gar nicht auf. So etwa die Worte:

  • δικαιοσύνη ["dikaiosýnæ"], "Gerechtigkeit",
  • δίκαιος ["díkaios"], "gerecht",
  • δικαιόω ["dikaióo"], "rechtfertigen",
  • κονωνία ["koinnonía"], "Gemeinschaft",
  • νόμος ["nómos"], "Gesetz",
  • oder πιστεύω ["pisteúo"], "glauben"

Im Römerbrief spricht Paulus die ihm unbekannte Gemeinde insgesamt 22 mal an. Selbst im so kurzen Philemonbrief gibt es eine Reihe von Anreden. Im Kolosserbrief kommt gar keine vor.

Und während Paulus ansonsten einen lebhaften Frage- und Antwort-Stil verwendet, fällt im Kolosserbrief die feierliche Sprache auf. Der zwingenden Argumentation des Paulus, bei der immer das eine auf das andere folgt, steht im Kolosserbrief eine viel stärker assoziative Gedankenführung gegenüber. Eines schließt assoziativ an das andere an.

Aus dieser Andersartigkeit der Sprache lässt sich ablesen, dass die Denkstrukturen des Kolosserbriefes ganz andere sind als diejenigen, die wir in den Paulusbriefen greifen können.

Exegeten, die nun an der Echtheit des Kolosserbriefes festhalten möchten, die also die Identität des Paulus und des Kolossers-Autor behaupten, führen nun an,

dass
Paulus angesichts des Martyriums eben einen pathetischen Stil entwickelt habe,
aber
auch im Philipperbrief schreibt Paulus in Todesgefahr, ohne einen solchen Stil zu entwickeln.
Sie sagen, dass
Paulus sich einen Altersstil zugelegt habe,
aber
in diesen wenigen Jahren ist es eigentlich recht unwahrscheinlich, dass sich der Stil des Paulus so entscheidend gewandelt haben soll.
Und es wird angeführt, dass
der Stil des Paulus eben aufgrund der ganz anderen Thematik hier eben auch anders zu sein habe,
aber
auch im Galaterbrief und dem ersten und zweiten Korintherbrief setzt sich Paulus mit Irrlehren auseinander, ohne einen Stil zu entwickeln, der dem des Kolosserbriefes ähnlich wäre.
Zudem ist der Umgang mit der Tradition im Kolosserbrief ein ganz anderer als in den echten Paulusbriefen.

7. Verfasser, Ort und Abfassungszeit

Wenn man dadurch nun zum Schluss kommt, dass der Kolosserbrief nicht von Paulus stammen kann, dann darf man als Ergebnis also sagen, dass der Autor unter dem Namen des Paulus schreibt, um eine oder mehrere Gemeinden vor Häretikern zu schützen. Er weiß sich an das paulinische Erbe gebunden und will auch die Gemeinde an das Erbe, das Evangelium des Paulus, binden.

Dieser Autor scheint dann den Philemonbrief als Grundlage seines Schreibens benutzt zu haben. Zahlreiche Berührungen, vor allem die Grußlisten, sprechen dafür. Der Autor des Kolosserbriefes hat die Grußlisten beinahe abgeschrieben.

Wer dieser Autor gewesen ist, bleibt im Dunkeln. Joachim Gnilka spekuliert im Blick auf Timotheus, ⋅2⋅ andere denken an Epaphras, den Gemeindegründer, der ja auch Paulusschüler gewesen ist.

Als Abfassungsort ist am ehesten an Ephesus zu denken, wo wir ja das Zentrum der Paulusschule vermuteten. Für die Zeit der Abfassung kommen frühestens die Jahre nach dem Tod des Paulus in Frage, also etwa 70 n. Chr. oder auch etwas später.

8. Pseudonymität und Kolosserbrief ⋅3⋅

Blicken wir, bevor wir zum nächsten Schreiben übergehen noch einmal auf das Phänomen der Pseudepigraphie überhaupt. Wie ist es jetzt zu bewerten, dass hier jemand vorgibt, einen Paulusbrief zu schreiben? Ist dies nicht glatter Betrug? Hat solch ein Schreiben im Neuen Testament überhaupt einen Wert?

Dazu muss man wissen, dass Pseudepigraphie in der Antike nichts ungewöhnliches ist. Man stellte sich dabei eben nicht über, sondern unter die Tradition eines Autors. Das heißt, dass die Paulusschüler sich unter die Autorität bzw. Tradition des Paulus stellten.

Ähnliches findet sich auch in der Anonymität der Evangelien: die Evangelisten stellen die Jesustradition dar und bringen Jesus durch die Tradition selbst zum Zuge, und dies indem sie ihre eigene Autorität aus dem Spiel lassen.

In pseudonymen Schreiben ist der Autor aus der Tradition legitimiert und damit unter die Autorität der Zeugen jener Zeit gestellt. Die Paulusbriefe behalten die Tradition des Briefeschreibens soweit bei, dass sie sogar denselben Aufriss verwenden.

Im Blick auf den Kolosserbrief bedeutet dies folgendes:

Der Brief wäre von vornherein zum Zweck der Publikation, d. h. der allgemeinen Verbreitung geschrieben worden. Sein Ziel war der Schutz der kleinasiatischen Gemeinden vor einer Irrlehre - wohl einer Frühform der aufkommenden Gnosis. Demnach wäre auch die Adresse, genauso wie der Absender fingiert gewesen. Der Brief war niemals direkt an die Gemeinde von Kolossae gerichtet. ⋅4⋅

Natürlich hat die Pseudonymität auch noch einen apologetischen Sinn. Der Brief will eine Irrlehre bekämpfen (Kol 2,8 und Kol 2,22). Auch die Irrlehrer berufen sich auf ihre Überlieferung. Indem der Schreiber des Kolosserbriefes sich nun unter dem Pseudonym des Paulus zu Wort meldet, macht er deutlich, dass er die bessere Überlieferung auf seiner Seite hat. Damit schlägt er die Gegner gleichsam mit ihren eigenen Waffen.

Man darf nun die Tatsache der Pseudonymität nicht mit falschen moralischen Maßstäben messen. Sie steht durchaus auf dem Boden der antiken Tradition. Es war allgemein üblich, sich unter die Autorität eines anderen zu stellen. Wir müssen nur ins Alte Testament schauen, wo sich viele pseudepigraphische Schriften finden. Ich denke etwa an Psalmen Davids, die Weisheit Salomos oder auch die Apokalyptik.

Dies soll zu diesem Thema aber genügen. Wenden wir uns nun dem nächsten dieser pseudepigraphischen Schriften zu, dem Epheserbrief.

Weiter-ButtonZurück-Button Anmerkungen

1 Wo nicht anders vermerkt folge ich meinem Lehrer Rudolf Pesch, Einführung in das Neue Testament II - nicht autorisierte Vorlesungsmitschrift des WS 1980/81 (Albert-Ludwig-Universität Freiburg i. Br.). Zur Anmerkung Button

2 Vgl.: Joachim Gnilka, Der Kolosserbrief (Freiburg 1980) 19-26. Zur Anmerkung Button

3 Vgl. hierzu: Norbert Brox, "Pseudepigraphie", Stuttgarter Bibelstudien. Zur Anmerkung Button

4 Man kann sich dabei gut vorstellen, dass der Kolosserbrief zusammen mit dem Philemonbrief ediert worden ist. Vielleicht ist letzterer erst deshalb in den Kanon der Heiligen Schriften aufgenommen worden. Dieser Umstand, der Umstand, dass man diesen kleinen, eher privaten Brief nicht übersehen oder vergessen hat, ist ja im Grunde genommen schon etwas merkwürdig. Zur Anmerkung Button